» Veröffentlicht am
            2. Februar 2023
            Autoethnografische Notizen als Zugang zum eigenen Lehren und Lernen
            
                                
Ein Beitrag von Björn Stövesand, Isabell Tacke und Samuel Albers
 “Pustekuchen, oft hat man dann kein Bild, keinen Ton, stellt Fragen in das schwarze digitale Nichts vieler Namen.” 
Das leidliche Thema der ausgeschalteten Kameras in Zoom: Ein 
Phänomen, das seit Beginn der Online-Semester für die meisten Lehrenden,
 aber auch Studierenden zum Alltag gehört und unterschiedlichste 
Reaktionen hervorruft. Lehrende empfinden es als unangenehmes Hemmnis 
der Lehrsituation, Studierende erleben vor allem in Gruppenarbeiten 
holprige Interaktionen. Die Herausforderung und die Gefahr, dass sich 
vorschnelle Urteile einschleichen oder sich Verdruss breit macht, ist 
für alle gleichermaßen groß. Dabei sind es genau solche ‘neuen’ 
Konstellationen eigentlich vertrauter Situationen, wie dem 
Seminargespräch, die zum Nachdenken anregen: Was ist eigentlich das 
‘Neue’? Warum habe ich dieses oder jenes Gefühl dabei? Warum irritiert 
mich das so? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, ist eine 
Beobachterposition erforderlich, von der aus – ohne Handlungsdruck – 
analysiert werden kann, wie sich eine solche Situation abspielt und wie 
mitunter emotionale Eindrücke entstehen. 
Ein solches wissenschaftliches Vorgehen haben wir in der AG 
Sprachdidaktik (Prof. Dr. Friederike Kern) mithilfe der Autoethnografie 
eingeführt, mit der wir selbst, aber auch die Studierenden einen 
distanzierten Blick auf das digitale Lehren und Lernen an der 
Universität werfen können. Dazu wird das alltägliche Erleben in diesem 
Bereich schriftlich festgehalten: Durch das bewertungs- und 
interpretationsfreie Dokumentieren in Form von Tagebucheinträgen 
entsteht nach und nach eine Textsammlung, die das ‘Lesen des Alltags’ 
ermöglicht - eine Strategie, mit der man zum Fremden im eigenen Leben 
wird. Wer schon mal einen jahrealten Tagebucheintrag von sich selbst 
gelesen hat, kennt diesen Effekt. 
Durch die Förderung des Qualitätsfonds Lehre des ZLL konnten wir ein 
kleines Lehr-Forschungsprojekt durchführen, in dem Studierende unserer 
Seminare, die alle das Lehramt anstreben, ihren (digitalen) Lernalltag 
jeweils über ein Semester hinweg als autoethnografische Protokolle in 
Form von individuellen Tagebüchern dokumentieren. 
Anschließend wurden die Studierenden von unserem ‘Analysetutor’ Samuel 
Albers dabei unterstützt, die Protokolle aus einer wissenschaftlichen 
Perspektive ‘neu’ zu lesen und so den eigenen Alltag zu einem 
Forschungsgegenstand zu machen - mit besonderem Fokus auf Fragen der 
Kommunikation und Wahrnehmung im digitalen Seminar.
Samuel stellt im Folgenden den konkreten Ablauf des Projekts und der 
Analysegruppen vor. 
Der wissenschaftliche Blick auf das eigene Lernen (Samuel Albers)
 
Die
 Beobachtungen sollten im Umfeld des eigenen Lernens und Arbeitens im 
digitalen Studium während der Pandemie angestellt werden – der konkrete 
Fokus war dabei völlig offen, die Studierenden sollten sich von den 
eigenen Interessen leiten lassen. In kleinen Gruppen habe ich als 
‘Analysetutor’ mit den Studierenden in einer ungezwungenen Atmosphäre 
regelmäßig die erstellten Beobachtungsprotokolle gesichtet und zunächst 
daran gearbeitet, dass diese den Anforderungen nach Wert- und 
Interpretationsfreiheit entsprechen. Wichtig war dabei auch, dass die 
Protokolle einen hohen Detailgrad aufweisen, denn je umfangreicher eine 
Beschreibung, desto besser für die Analyse. 
Nach diesen Phasen wurden die Protokolle analytisch in den Blick 
genommen. Das heißt, sie nach Themen, Mustern und Phänomenen zu 
durchsuchen, die immer wieder auftauchen und daher offensichtlich im 
Lernalltag der Teilnehmenden eine zentrale Rolle spielen. Sobald die 
Studierenden eine Reihe solcher Muster und Themen identifiziert hatten, 
ging es darum, theoretische Bezüge herzustellen. So konnten die 
Studierenden die Chronologie des protokollierten Geschehens aufbrechen, 
in eine thematische Ordnung überführen und so die Beschreibungen 
interpretierend anreichern. Eine besondere Bedeutung kam dabei der 
Diskussion der Protokolle in Gruppen zu, da gegenseitige Impulse, 
Rückfragen und Thesen einen größeren Fremdheitseffekt ermöglichen. 
Eine Teilnehmende berichtet folgendermaßen von ihrer Projektarbeit: 
„Die größte Herausforderung ist es für mich gewesen, mein 
Blickfeld nicht von vornherein einzuschränken und offen für alles zu 
sein. So hat man in Dingen, die im ersten Moment als unwichtig oder 
normal erschienen, beim zweiten Hinschauen eine Relevanz erkennen 
können. Zudem war das dokumentieren nicht ganz so einfach. Eine weitere 
Herausforderung für mich war es, das Erlebte beim Nacherzählen nicht 
direkt schon zu analysieren und zu deuten, sondern erstmal wirklich nur 
das Erlebte aufzuschreiben und dann in einem zweiten Schritt zu 
analysieren.“
Den Arbeitsprozess mit den Protokollen und ihr Analyseergebnis zu 
einem ausgewählten Thema haben die Studierenden dann in Form eines 
wissenschaftlichen Posters präsentiert, was zugleich als benotete 
Prüfungsleistung für ein Seminar der sprachlichen Grundbildung genutzt 
werden konnte. Isabell Tacke hat selbst an dem Projekt teilgenommen und 
stellt ihr Projekt kurz vor. 
Ein Beispiel: Reflexion über die gegenseitige Wahrnehmung in Online-Seminaren (Isabell Tacke)
„… besonders in diesem Seminar fällt mir auf, dass nur die 
Student*innen sich beteiligen, die auch ihre Kamera eingeschaltet haben.
 […] Ich stehe schnell aus dem Bett auf und nehme meinen Laptop und das 
IPad wieder mit an den Schreibtisch, um meine Kamera anschalten zu 
können. Die Dozentin beginnt […] das Meeting und startet mit einer 
Wiederholung der Aufgaben. Ich schalte meine Kamera wieder aus und gehe 
in die Küche, um mir etwas zum Frühstück zu machen.“ 
Eine Situation, wie diese haben bestimmt viele Student*innen in den 
letzten Coronasemestern erlebt. Sich mit eingeschalteter Kamera zu 
Zoom-Sitzungen hinzuzuschalten, ist immer wieder eine Hürde. Aber auch 
das Teilnehmen an universitären Veranstaltungen, wie einer Vorlesung, 
von sehr privaten Orten wie dem eigenen Bett aus, sind neue Phänomene, 
welche bei mir immer wieder zu Unwohlsein geführt haben. Sitzen alle 
Student*innen in ihrem privaten Umfeld vor ihrem Laptop oder PC, dann 
ist außerdem das Ablenkungspotenzial sehr viel höher, als in 
Vorlesungsräumen. So kann es passieren, dass ich online im Meeting als 
schwarze Kachel anwesend bin, eigentlich jedoch gerade nebenan ein 
Frühstück vorbereite, wie in meinem Protokollauszug festgehalten. Das 
alles sind Phänomene, die plötzlich im Alltag der Lehrenden und 
Lernenden eine Rolle spielen. Es sind kaum Seminargespräche möglich, 
noch ist eine Anwesenheitskontrolle sinnvoll und durch das hohe 
Ablenkungspotenzial fällt es mir deutlich schwerer mich auf die Inhalte 
zu konzentrieren.
Um diese alltäglichen Herausforderungen überhaupt als solche in den 
Blick nehmen zu können, bietet es sich an eine Beobachtungshaltung 
einzunehmen. 
Um mich diesem Eindruck zu nähern habe ich meine seit Wochen gesammelten
 Tagebucheinträge nach Auffälligkeiten untersucht.
Mir fiel auf, dass es in der Präsenzlehre bisher so gewesen war, dass es
 nur einen privaten und einen öffentlichen Raum gegeben hat. Während die
 Lehre allgemein im öffentlichen Raum, also an Schulen oder 
Universitäten stattgefunden hat, war der private Raum, also die eigenen 
vier Wände, für das individuelle Arbeiten und die Freizeit reserviert. 
Aus meinen Tagebucheinträgen ging hervor, dass ich mich immer dann 
unwohl gefühlt hatte, wenn sich mein privater Raum zu sehr mit dem 
öffentlichen Raum vermischte. 
Durch die Umstellung zur Online-Lehre kommt nun ein weiterer Raum hinzu,
 der „halb-öffentliche Raum“. Er wird durch einen Laptop oder Computer 
und eine Videokonferenzsoftware von zuhause aus betreten. Gleichzeitig 
wird in diesem Raum nun aber auch gelehrt, was bisher immer im 
öffentlichen Raum, an Schulen oder Universitäten stattgefunden hat. Es 
entsteht also ein neuer Raum, der sowohl sehr öffentlich als auch sehr 
privat ist. 
Dieser neue Raum ist weitgehend unbekannt und unreflektiert, sodass 
große Unsicherheit herrscht, welches Verhalten dort akzeptiert wird und 
was nicht in diesen Raum gehört. 
Es entstehen viele Verhaltensweisen und Missverständnisse dadurch, dass 
versucht wird, die gesellschaftlichen Regeln, auf die sich im Laufe der 
Zeit geeinigt wurde, aus dem öffentlichen Raum auch im 
„halb-öffentlichen-Raum“ anzuwenden. Die Öffentlichkeit dieses 
Zwischenraums wird vor allem deswegen zum Problem, da ein 
Präsentationszwang der eigenen Person entsteht. Ein Beispiel, was diesen
 Gedanken verdeutlicht: Ich würde eigentlich nicht nur mit einem 
Jogginganzug bekleidet an Veranstaltungen in der Universität teilnehmen.
Diese Verhältnisse zwischen dem privaten und öffentlichen Raum sind in 
diesem Schaubild dargestellt: 
 
Als ich mir all dies herausgearbeitet hatte, konnte ich mir auf 
einmal viele Phänomene und Schwierigkeiten der Online-Lehre ganz einfach
 erklären. 
So denke ich, dass jede Situation, in der sich der private Raum zu sehr 
mit dem öffentlichen mischt zu Unwohlsein und Irritation bei Lehrenden 
sowie Lernenden führt. Oft ist die Reaktion der Lernenden auf diese 
Vermischung das Ausschalten der Kameras. Dieses Ausschalten ist ein 
Symbol für den Rückzug in ihren privaten Raum und das Vermeiden von zu 
großer Vermischung beider Räume. Damit verbunden ist auch das Phänomen 
der „Scheinanwesenheit“, also die scheinbare Anwesenheit von Lernenden 
durch schwarze Kacheln im Zoom-Meeting.
Das Ablenkungspotenzial im eigenen Arbeitszimmer ist deutlich höher als 
im universitären Seminarraum. Der halb-öffentliche Raum wird so zur 
ständigen Herausforderung, die Aufmerksamkeit auf die Veranstaltung 
beizubehalten. 
Daraus folgt auch, dass ich dem ortsunabhängigen Arbeiten und Lernen 
nicht mehr uneingeschränkt positiv gegenüber stehe - die Raumvermischung
 verlangt mir deutlich mehr ab, als es zunächst den Anschein hatte. 
All diese Erkenntnisse und auch eine Einordnung in den 
wissenschaftlichen Kontext habe ich auf einem Plakat zusammengefasst und
 Konsequenzen abgeleitet: 
- Persönliche Konsequenzen der Reflexion 
Wenn ich in Zukunft also in einem Online-Seminar sitze und mich nicht 
überwinden kann meine Kamera einzuschalten, weiß ich, dass es vermutlich
 an der Vermischung des öffentlichen und des privaten Raums liegt. Ich 
kann dann Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel das Einstellen des 
verschwommenen Hintergrunds. 
 - Konsequenzen für Lehrende 
Vielleicht noch wichtiger ist die Reflexion für diejenigen, die online 
lehren. Für sie könnte es sinnvoll sein, die Schwierigkeiten der 
Online-Lehre zu thematisieren, um vorschnellen Bewertungen des 
Verhaltens zu entgehen. Zum Beispiel könnte man vorgeben, dass jeder 
sich eine Ecke in seinem privaten Raum als Online-Ecke einrichtet und 
vielleicht einen passenden Hintergrund einstellt. 
 
Fazit
Das Projektbeispiel zeigt, wie eine distanzierte Beschäftigung mit 
dem eigenen Alltag diffuse Emotionen und Affekte aufdecken und 
bearbeitbar machen kann. Durch theoretische Bezüge und das Benennen von 
Eindrücken und Phänomenen konnte Isabell im Projekt eine 
Beschreibungssprache finden, die zu interessanten Reflexionen geführt 
hat. Die Fähigkeit, sich von den eigenen Reaktionen und der 
Involviertheit in Situationen zu lösen und sich sozusagen in die 
Situation eines “Fremden” zu begeben, wird vor allem auch für angehende 
Lehrkräfte als wichtiger Teil der Professionalität diskutiert. Aus 
diesem Grund sind wir dabei, das Lehrprojekt zur Autoethnografie auch in
 anderen Veranstaltungen rund um die Praxisphasen im Lehramtsstudium zu 
implementieren. 
            
            »
               Weiterlesen