» Veröffentlicht am
14. Dezember 2023
Warum barrierefreie Lehre immer wichtiger wird – Ein Interview mit Judith Kuhlmann und Michael Johannfunke
Die letzte Studierendenbefragung zeigte einen starken Anstieg von
Studierenden mit Beeinträchtigungen. Waren es 2018 noch 18% an der
Universität Bielefeld, gaben nun 25% der Studierenden an, eine Form der
Beeinträchtigung zu haben. Die Bandbreite reicht dabei von Seh- oder
Hörproblemen bis hin zu psychischen Beeinträchtigungen. Aus diesem
Grund sollten auch die verfügbaren Unterstützungsangebote entsprechend
vielfältig gestaltet sein.
Wir haben mit Judith Kuhlmann von der Fakultät für Erziehungswissenschaft und Michael Johannfunke von der Zentralen Anlaufstelle Barrierefrei (ZAB), die im Projekt SHUFFLE
zusammenarbeiten, darüber gesprochen, wie barrierefreie Lehre aussehen
könnte, welche Angebote es bereits gibt und welchen Herausforderungen
sich die Universität Bielefeld in der Zukunft noch stellen muss.
Birte Stiebing: Was bedeutet barrierefreie Lehre und welche Aspekte beinhaltet diese?
Judith Kuhlmann:
Grundsätzlich bedeutet barrierefreie Lehre erst einmal, dass alle
Studierenden völlig unabhängig von ihren persönlichen Umständen an der
Lehre teilnehmen können. Das umfasst vor allem technische und
didaktische Aspekte der Lehre, also dass Inhalte und Methoden
zugänglich für alle Studierenden sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist
die Haltung der Lehrenden. Diese sollten die Bereitschaft
signalisieren, auf die Bedürfnisse der Studierenden einzugehen und ihre
Probleme ernst zu nehmen.
Michael Johannfunke: Die
Lehrenden müssen ja keine Probleme in dem Sinne lösen, aber sie sollten
sich eben ansprechbar machen und offen für die Thematik sein und
zumindest wissen, wo sie Studierende weiter hin verweisen könnten. Damit
wäre schon sehr geholfen.
JK: Es sind zwar einerseits die
technischen Aspekte, also dass etwa Materialien, die für die Lehre
wichtig sind, früh genug bereitgestellt werden und zugänglich sind. Aber
es geht auch darum, dass eine diversitätssensible Haltung bei den
Lehrenden vorhanden ist. Also dass ein grundsätzliches Bewusstsein dafür
da ist und den Studierenden gegenüber Offenheit signalisiert wird.
BS: Gibt es schon Handlungsleitfäden für die barrierefreie Lehre an der Universität Bielefeld oder sind diese noch in Arbeit?
MJ:
Konkrete Handlungsleitfäden gibt es in der Form noch nicht. Was wir
aber seit einigen Jahren haben, ist ein Portal zur digitalen
Barrierefreiheit. Man kann sich dort zur Gestaltung von Lehrmaterialien
informieren und wir haben da auch Schritt für Schritt-Anleitungen für
verschiedene Dokumentarten. Wenn man sich einfach nur informieren will,
gibt es auch eine A bis Z Liste mit Stichworten. Was das angeht, sind
wir schon breit aufgestellt, aber konkrete Handlungsleitfäden gibt es
noch nicht. Da ist allerdings etwas in Arbeit.
JK: Wir
haben zusätzlich ein Materialpaket entwickelt, dass sich ganz gezielt
an Lehrende richtet. Das ist eine Sammlung von verschiedenen
Materialien, Checklisten und einer Wissensdatenbank. Mit konkreten
Umsetzungsbeispielen und Vorschlägen gehen wir auf die Bedürfnisse ein,
die die Lehrende in der Befragung geäußert haben und begleiten sie bei
dem Prozess, ihre Lehre barrierefrei zu gestalten. Das Materialpaket
ist schon recht umfangreich. Da
kann man sich so ein bisschen durchklicken, je nachdem, was man sucht
oder was man gerade braucht.
Dieses Materialpaket ist jetzt seit
kurzem in der Erprobungsphase. Der Zugang ist öffentlich über
OpenMoodle. Und auch, wenn die Hauptzielgruppe Lehrende sind, kann das
für andere Akteursgruppen der Hochschule interessant sein – gerade für
die barrierefreie Gestaltung von Materialien, wie Word-Dokumenten und
Powerpoint. Das wird ja von vielen genutzt und deswegen sind wir auch da
froh, Rückmeldung zu bekommen.
Es gab einen Einführungsworkshop,
aber man kann den Kurs auch ohne diesen besucht zu haben gut machen. Wer
Interesse am Kurs hat, kann einfach eine E-Mail
an das SHUFFLE Projekt schreiben oder sich direkt selbst in den Kurs
„Materialpaket barrierefreie Lehre“ einschreiben. Wir freuen uns über
jedes Feedback, damit wir das Materialpaket im Nachgang noch
weiterentwickeln können.
Aber im Rahmen des Projektes SHUFFLE arbeiten wir auch auf strategischer Ebene an eher allgemeineren Leitfäden.
MJ:
Das SHUFFLE Projekt befindet sich jetzt auch im letzten Jahr, daher
kann bald mit einer Veröffentlichung der Materialien gerechnet werden.
Wir haben aber noch ein weiteres Projekt, das gerade erst angelaufen
ist. Das wäre das Dachs-Projekt, das am 1. April gestartet ist und ein
reines Projekt des ZAB ist, also kein Verbundprojekt. Der Name steht für
Digital, Accessibility, Sharing und Simulation. Im Rahmen des Projekts
werden Moodle-Kurse entwickelt, in denen man seine Materialien selbst
auf Barrierefreiheit testen oder eben auch Beeinträchtigungen simulieren
kann. Dort werden wir auch ganz viele Informationen zu verschiedenen
Arten von Beeinträchtigungen bereitstellen.
BS: Was für besondere Herausforderungen gibt es denn dabei, digitale Lernräume, wie etwa Moodle-Räume, barrierefrei zu gestalten?
JK:
Wir haben im Rahmen des Projekts eine Bedarfserhebung gemacht, um
herauszufinden, wo die Probleme und Schwierigkeiten von Lehrenden in der
Umsetzung barrierefreier Lehre liegen und da sind ganz interessante
Erkenntnisse herausgekommen. Es sind vor allem drei Einflussfaktoren:
Das Wissen, die Erfahrung und die Einstellung.
Bezüglich des Wissens
haben wir die Lehrenden selbst ihren Kenntnisstand hinsichtlich
barrierefreier Lehre einschätzen lassen und dieser war insgesamt eher
mittel bis gering. Weniger als 6% haben sich selbst umfangreiches Wissen
zugeschrieben. Und das spiegelte sich dann auch in der Erfahrung wider.
Es ist eben so, dass die Lehrenden noch sehr wenig Berührungspunkte mit
digitaler Barrierefreiheit haben. Wir haben auch abgefragt, wie viele
der wichtigen Aspekte für digitale Barrierefreiheit bereits in der Lehre
umgesetzt werden und dieser Anteil war verschwindend gering. Nur 2 von
12 dieser Aspekte wurden überhaupt von mehr als der Hälfte der Lehrenden
umgesetzt.
Das könnte auch von den Einstellungen dazu kommen, denn
Lehrende haben ganz große Bedenken bezüglich des Mehraufwandes. 67% der
Befragten haben gesagt, sie haben Bedenken bezüglich des zeitlichen
Mehraufwandes, 54% bezüglich des technischen Mehraufwandes und 34%
hatten Angst, dass es ein großer didaktischer Mehraufwand ist. Und auch
wenn ich das nicht kleinreden will, denn einige Aspekte benötigen
tatsächlich einen größeren Aufwand, aber diese Bedenken sind eher
antizipiert und spiegeln nicht den tatsächlichen Mehraufwand wider.
Der
große Punkt ist aber eigentlich das Wissen und genau da wollen wir
ansetzen und Hilfestellung bieten. Es geht darum, zu zeigen, dass wenn
man Barrierefreiheit von Anfang an mitdenkt, eigentlich nur eine kleine
Umstellung seiner eigenen Struktur notwendig ist.
Wir wollen auch
ein Bewusstsein dafür bilden und zeigen, für wie viele Studierende an
der Uni Bielefeld, aber auch generell an deutschen Hochschulen,
Barrierefreiheit überhaupt ein relevantes Thema ist. Viele Lehrende
haben nämlich auch Zweifel am Mehrwert geäußert: Mehr als 15% waren der
Meinung, dass ihre Studierenden das gar nicht bräuchten.
BS:
Welche Aspekte der Barrierefreiheit werden denn an der Universität
Bielefeld bereits zufriedenstellend umgesetzt und wo gibt es
gegebenenfalls noch Nachholbedarf?
MJ: Die Frage ist
ja, ob wir uns jemals zufriedengeben können. Ich glaube, man kann immer
überall noch etwas tun. Es gibt in meinen Augen nicht die
zufriedenstellende und vollkommene Barrierefreiheit. In dem Moment, in
dem wir irgendwo Barrieren abbauen, bauen wir sie für jemand anderen
gegebenenfalls wieder auf. Das muss man immer bedenken.
Gesetzliche
Barrierefreiheit beinhaltet auch immer nur Mindestanforderungen, die der
Gesetzgeber vorgibt. Das muss man sich einfach immer klar machen. Es
wird nie eine vollständige Barrierefreiheit geben und wir können auch
nicht allen gleichzeitig in vollem Umfang gerecht werden.
Aber ich
denke, dass wir an der Uni auf einem vielversprechenden Weg dahin sind,
denn wir werden gut unterstützt. Wir haben großartige Projekte, gerade
im baulichen Bereich. Das ist ja so der Klassiker, denn das sieht man
sofort, da wird einfach alles dafür getan die neuen Gebäude und auch die
Campusanlagen barrierefrei zu gestalten.
Außerdem interessieren sich
die Menschen für das Thema, egal ob in der Lehre oder in der
Verwaltung. Wir haben zum Beispiel eine Fortbildungsreihe zu
verschiedenen Themen der Barrierefreiheit, die ist immer gut besucht.
Und auch die verschiedenen Angebote in der ZAB werden oft genutzt.
BS:
Wir haben seit kurzem im X-Gebäude einen Flex-Seminarraum und
auch neue Co-Learning-Spaces unten im Hauptgebäude. Dort können die
Möbel ja zum Teil an die Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe angepasst
werden. Könnte so ein Konzept auch zu mehr Barrierefreiheit beitragen?
MJ:
Aus meiner Sicht auf jeden Fall. Wir waren auch bei der Planung des
Flex-Seminarraums involviert. Ich selbst war Mitglied der Projektgruppe
und sehe da ganz klare Vorteile bei der Barrierefreiheit, weil man eben
flexibel auf die Bedürfnisse reagieren kann. Wir haben zum Beispiel
immer wieder in eigenen Veranstaltungen Studierende, die brauchen
kleinere Räume und was kann man mit so einem Raum machen? Wir haben die
Möglichkeit, den Raum zu unterteilen und somit Studierenden einen
Rückzugsort für kurze Auszeiten und Gespräche mitten in einer
Veranstaltung zu bieten. Das ist undenkbar in einem großen Hörsaal.
Außerdem kann man die Höhen der Möbel beliebig anpassen. Manche Menschen
können überwiegend nur stehen, manche müssen sitzen. Das kann total
flexibel gehandhabt werden und auch an verschiedene Gruppen angepasst
werden.
Durch ein hohes Maß an Flexibilität wird ein höheres Maß an
Barrierefreiheit erreicht. Dazu müssen sich natürlich alle an gewisse
Spielregeln halten, aber das funktioniert hier auch ganz gut, dass dann
eben auch am Ende aufgeräumt wird und die Wege freigehalten werden.
BS:
Jetzt wollen wir ein bisschen in die Zukunft blicken. Wie könnte die
Uni Bielefeld in 20 Jahren in Bezug auf die Barrierefreiheit aussehen?
Welche Perspektiven gibt es da?
MJ: Ich habe da eine
ganz klare Vision. Also ich finde, die Uni Bielefeld hat mit diesem
Campus ein wahnsinniges Potenzial, DER barrierefreie Campus in
Deutschland zu werden. Wenn wir jetzt über 20 Jahre reden, dann ist das
schon realistisch. Wir haben die besten Gegebenheiten sowohl vom
Örtlichen her, aber auch von den geplanten Konzepten in den
Bauabschnitten. Dadurch, dass die Gebäude alle barrierefrei gestaltet
werden, wird etwa in der medizinischen Fakultät auch Studierenden mit
Behinderung ein Studium ermöglicht. Ja, also wir haben ein riesiges
Potenzial.
JK: Und ergänzend dazu haben wir auch die
Expertise. Also dass wir jetzt die ZAB haben, das ist schon ein
wahnsinniger Fortschritt, auch im Vergleich zu anderen Hochschulen in
Deutschland. Und das wollen wir noch weiter ausbauen, die Expertise
halten und weitergeben. Das geht hoffentlich so weiter und wird noch
größer und bedeutsamer, sodass das Thema weiter mitgedacht und dadurch
in die breite Masse hier an der Hochschule getragen wird.
BS: An wen können sich denn Lehrende wenden, wenn sie ihre Lehre barrierefreier gestalten wollen?
JK:
Vor allem erst mal an die ZAB. Solange das Projekt noch läuft auch an
die Mitarbeitenden im Team SHUFFLE, also mich zum Beispiel, aber zentral
ist die ZAB der Ort, an dem man Hilfe findet.
MJ: Wir
haben auch einen Beauftragten für Studierende mit Behinderungen und die
Schwerbehindertenvertretung für die Beschäftigten und Promovierenden, an
die sich die Menschen wenden können. Aber mit allen Fragen kann man
sich eigentlich an die ZAB wenden und wir gucken dann, wie wir diese am
besten beantworten und wie wir am besten unterstützen können.
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