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27. Oktober 2023
Rainer Schützeichel 03. 10. 1958 – 25. 10. 2023 Prof.
Dr. Rainer Schützeichel ist am 25. Oktober plötzlich und unerwartet im
Alter von 65 Jahren verstorben. Damit verliert die Fakultät für
Soziologie einen sowohl fachlich hoch geschätzten als auch im
zwischenmenschlichen Kontakt großartigen Kollegen. Die Todesnachricht
hat in der Fakultät Bestürzung und große Trauer ausgelöst.Rainer
Schützeichel lehrte seit 2013 Soziologische Theorie, Historische
Soziologie, Wirtschaftssoziologie und Religionssoziologie an der
Bielefelder Fakultät für Soziologie, die er schon kurz nach seiner
Ankunft in Bielefeld als seine wissenschaftliche Heimat empfand – und
die er in den folgenden Jahren wissenschaftlich wie persönlich
maßgeblich bereicherte. Vor seinem Ruf nach Bielefeld wirkte
Schützeichel seit 2000 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
FernUniversität Hagen, wo er 2001 promoviert und 2011 habilitiert wurde.
Zwischen 2005 und 2012 vertrat Schützeichel Professuren in Bielefeld,
Bochum, Hagen, München (Nachfolge Ulrich Beck), Duisburg, Aachen und
Koblenz-Landau.
Eine außerordentliche Auffassungsgabe und ein
geradezu phänomenales Konzentrationsvermögen ermöglichten es Rainer
Schützeichel, sich entgegen dem Trend zur Spezialisierung in heterogene
Themen und Fragestellungen einzudenken, die jeweiligen Forschungslagen
akribisch aufzuarbeiten und eigene profunde wissenschaftliche Beiträge
zu liefern. 2007 gab er ein Handbuch Wissenssoziologie und
Wissensforschung heraus - das erste seiner Art im deutschsprachigen
Raum, mit über 60 Einzelbeiträgen. Das von ihm edierte Handbuch
Emotionen und Sozialtheorie (2006) trug dazu bei, das Konzept der
Emotion, ursprünglich in der Psychologie und Philosophie beheimatet,
auch in den Sozialwissenschaften zu verankern. Der Einführungsband
Historische Soziologie (2004) arbeitete die deutsche Tradition und den
aktuellen angloamerikanischen Forschungsstand auf und bildete eine
wichtige Grundlage für die in den 2010er Jahren einsetzende Neubelebung
der historischen Soziologie in Deutschland. Auf seine Initiative ging
der 2015 gegründete Bielefelder Arbeitskreises Historische Soziologie
und Prozessforschung zurück, der 2021/22 in den Arbeitskreis Historische Soziologie aufging. 2015 gab Rainer Schützeichel gemeinsam mit Stefan
Jordan den Band Prozesse – Formen, Dynamiken, Erklärungen heraus, der
eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme des Prozessbegriffs unternahm,
und, nicht zuletzt in seinem eigenen Aufsatz, wichtige Gesichtspunkte
zur weiterführenden Diskussion bot. Das Werk fand auch Aufmerksamkeit
und Anerkennung in den Nachbarwissenschaften. In mehreren Aufsätzen
befasste sich Rainer Schützeichel mit dem Thema Kirche und Religiosität,
insbesondere damit, dass sich Religiosität zunehmend außerhalb der
etablierten Kirchen entfalte. Seine letzte im Publikationsverzeichnis
der Universität verzeichnete Veröffentlichung galt der Analyse
historischer Differenzierungsprozesse in der Kirchenmusik mithilfe des
Begriffs der Konfiguration musikalischer Welten. Ein aktuelles
Forschungsprojekt befasst sich mit der Frage, wie sich
Professionswissen, z.B. von Ärzten, Psychologen und Sozialpädagogen,
angesichts der „Selbstexpertisierung“ der Klienten einerseits und der
Transnationalisierung der Professionen andererseits verändert.
In
all diesen und vielen anderen Forschungen spiegelt sich eine schier
unerschöpfliche intellektuelle Neugier, die nach immer neuen
Herausforderungen suchte. Als verbindendes Element von Schützeichels
Arbeiten kann man seine besondere Aufmerksamkeit und Sensibilität für
jeweils unterschiedliche Bedeutungsmuster und -nuancen von
sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen ausmachen wie Prozess, Relation,
Situation, Feld, (soziale) Kausalitäten, Handeln, Kultur, Sinn,
Konfiguration, Zeit und Wissen. Eine skrupulöse Reflexivität beim
Gebrauch sozialwissenschaftlicher Grundbegriffe war ihm wichtig. Als
Fernziel schwebte ihm eine Ontologie des Sozialen, eine
grundlagentheoretische Neubestimmung der Sozialwissenschaften vor, die
er nach seiner Emeritierung in einem dreibändigen Werk in Angriff nehmen
wollte. Dass es hierzu nicht mehr kommen wird, muss als großer
fachlicher Verlust gelten.
Ungeachtet seines umfangreichen
Forschungspensums trat Rainer Schützeichel aber insbesondere auch als
akademischer Lehrer in Erscheinung. Das Interesse an seinen
Lehrveranstaltungen war so groß, dass seine Seminare bisweilen in
Hörsälen stattfinden mussten. In der Ausbildung der Studierenden war ihm
das Wecken fachlicher Neugier und Reflexivität ebenso wichtig wie die
intellektuelle Persönlichkeitsbildung. Trotz seines ohnehin schon hohen
Lehrdeputats – dessen Reduzierung er jüngst ablehnte – hat Rainer
Schützeichel einen beträchtlichen Teil seiner Zeit und Energie der
Diskussion, Beratung und Betreuung von Studierenden, ihrer Projekte und
Abschlussarbeiten gewidmet. Die große Anerkennung, die er unter den
Studierenden genoss, ist seinem besonderen Engagement in der Lehre und
Betreuung sowie seiner Zugewandtheit zu den Belangen der Studierenden zu
verdanken.
Unter den Fakultätskolleginnen und -kollegen war
Rainer Schützeichel aufgrund sowohl seiner umfassenden Kompetenz und
intellektuellen Präzision als auch seiner ausgleichenden Persönlichkeit
und seiner außergewöhnlichen Hilfsbereitschaft sehr geschätzt und
anerkannt. Aufgrund seiner mit Freundlichkeit und Fairness gepaarten
fachlichen Autorität war seine Mitwirkung im Rahmen von
Berufungskommissionen, Promotionen oder Habilitationen, aber auch in der
fachlichen Beratung bei Forschungsvorhaben, überaus gefragt. Von 2015
bis 2022 fungierte er zudem als geschäftsführender Herausgeber der in
Bielefeld erscheinenden Zeitschrift für Soziologie.
Zehn Jahre
lang hat Rainer Schützeichel das Fakultätsleben maßgeblich mitgestaltet
und mitgeprägt. Er war ein hervorragender Wissenschaftler und besonders
leidenschaftlicher und engagierter akademischer Lehrer, der von
Kolleginnen und Kollegen wie von Studierenden gleichermaßen hoch
geschätzt und anerkannt wurde. Und er war ein in jeder Hinsicht
wunderbarer Kollege und Mensch. Sein Tod ist ein schmerzlicher Verlust
und hinterlässt eine große Lücke. Es war ein großes Glück, ihn zu kennen
und mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. In großer Trauer und tiefer
Dankbarkeit nehmen wir Abschied.