Soziologie
Semesterauftakt an der Fakultät für Soziologie: Wissenschaft unter autoritärer Bedrohung
Die Fakultät für Soziologie eröffnete das Sommersemester 2025 mit einer Podiumsdiskussion, die aktuelle Bedrohungen für die Wissenschaftsfreiheit in den Mittelpunkt stellte. Unter dem Titel „Wissenschaft unter autoritärer Bedrohung“ diskutierten Tomke König, Thomas Faist und Andreas Vasilache über Herausforderungen für freie Forschung und akademisches Arbeiten angesichts erstarkender autoritärer Tendenzen weltweit. Die Veranstaltung richtete sich an Studierende, Lehrende und weitere Interessierte und setzte einen nachdenklich stimmenden Akzent zum Semesterbeginn. Im Folgenden sind die zentralen Positionen und Impulse aus den drei Beiträgen zusammengefasst.
Tomke König: Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit am Beispiel der Gender Studies
Gender Studies, die in der Tradition von Befreiungstheorien stehen, waren von Beginn Anfechtungen grundsätzlicher Natur ausgesetzt. Grundsätzlicher insofern, als dass der Frauen- und Geschlechterforschung die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wurde.
Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zielt auf die Episteme, auf die Form der Wissensproduktion selbst. Der strittige Punkt ist, dass Gender Studies Gesellschaft nicht nur untersucht und beschreibt, sondern diese in ihrer theoretischen Analyse als einen zu kritisierenden Herrschaftszusammenhang begreift.
Als befreiungstheoretische Wissenspraxis ist Geschlechterforschung von dem Wunsch motiviert und angetrieben, mit dem eigenen Denken und Schreiben verändernd in die Gesellschaft zu wirken. Die theoretische Analyse schließt Aussagen darüber ein, ob es bestimmte Verhältnisse und Praktiken (z.B. patriarchale Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse, Abhängigkeit im Privaten, heterosexuelle „männliche“ Sexualität, herkömmliche Subjekt-Objekt Beziehung) weiterhin geben oder nicht geben sollte. Geschlechterforschung stellt nicht nur zentrale Eckpfeiler der herrschenden Gesellschafts- und Geschlechterordnung in Frage, sie entzieht ihr vor allem auch die Legitimation in der Natur. Schließlich wird auf der Notwendigkeit gesellschaftlichen und staatlichen Handelns für die Überwindung der bestehenden Geschlechterverhältnisses insistiert.
Gender Studies sind als ein wissenschaftliches Feld anerkannt: Es gibt Professuren mit Gender Denomination, Studiengänge der Geschlechterforschung, große Forschungsverbünde, Fachzeitschriften. Nicht zuletzt wurden die Gender Studies in 2023 mit der Evaluation des Wissenschaftsrates als Teilgebiet in verschiedenen Disziplinen sowie als eigenes Fach anerkannt.
Parallel zu dieser Entwicklung haben rechtspopulistische Anfeindungen von Gender Studies zugenommen. Es liegen zahlreiche Publikationen vor, die diese Anfeindungen analysieren. Jüngst hat sich auch Judith Butler in „Who’s afraid of Gender“ (2024) mit den rechtsautoritären Politiken beschäftigt, in denen Geschlecht zu einem Phantasma wird, mit dem sich Angst schüren und in der Folge autoritäre Macht legitimieren lässt.
„Auch wenn im Zentrum der Mobilisierung der autoritären Rechten Migrationsfragen, Integration und Islam zu stehen scheinen“, so hebt Birgit Sauer hervor, „sind diese Akteur:innen in den vergangenen etwa 15 Jahren von Geschlechterfragen geradezu besessen. Diese Obsession zeigt sich in ihrem Engagement gegen das, was sie ‚Genderismus‘ nennen, also gegen die dekonstruktivistische Sicht auf Geschlecht“ (Sauer 2025: 264).
Die AfD hat bereits Ende 2020 und dann 2023 als unmittelbare Reaktion auf die Ergebnisse der Evaluation der Gender Studies durch den Wissenschaftsrat Anfragen an den Bundestag gestellt und nicht nur für die Abschaffung der Gender Studies plädiert. In den seitenlangen aufgelisteten Fragen wird die Wissenschaftlichkeit der Evaluation des WR selbst angezweifelt. Wer die damalige Aussprache im Bundestag verfolgt hat, war vielleicht wie ich darüber erstaunt, wie sehr alle anderen Fraktionen durch die AfD zu einer Befürwortung der Gender Studies bewegt wurden. Selbst die CSU fand auf einmal Argumente für dieses Fach. Diese Reaktion hat mich damals beruhigt und ich dachte, sie kommen mit ihren Anliegen nicht durch.
Mittlerweile ist aus diesen Anfragen jedoch eine öffentlich ausgesprochene Drohung geworden: Am 18. Januar 2025 kündigte Alice Weidel auf dem Parteitag der AfD an, dass eine Regierung unter ihrer Führung die Gender Studies abschaffen und „diese Professoren“ rausschmeißen würde.
Diese Äußerungen, in denen eine ganze Disziplin programmatisch abgelehnt und mit einem massiven Eingriff in die Freiheit von Forschung und Lehre gedroht wird, sind ganz klar verfassungswidrig und zutiefst antidemokratisch. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass es tatsächlich so kommen würde. Der zentrale Punkt ist m.E. jedoch, dass solche Drohungen die Art und Weise lenken, wie über Geschlechterforschung gedacht wird. Und deshalb jagt mir dieser Politikstil große Angst ein.
In der Begründung der Abschaffung von Geschlechterforschung wird nicht nur die Unwissenschaftlichkeit angeführt. In autoritär-rechten Diskursen werden vor allem Gefahren aufgerufen, die angeblich von den Gender Studies ausgehen (vgl. Sauer 2025). Demnach gefährdet die Dekonstruktion von Geschlecht die Familie, die gesellschaftliche Ordnung und die Nation. Die exzessive Gleichstellungspolitik zerstört die Kultur und bedroht Männer. Zum rechts-autoritären Narrativ gehört auch die Vorstellung, dass sich die Gesellschaft feminisiert. Schließlich wird auch in nicht heterosexuellen Formen der Sexualität eine Bedrohung gesehen.
Vorliegende Forschung zeigt, dass diese Bedrohungsszenarien und die Panikmache nicht zuletzt deshalb verfangen, weil mit Familie, Sexualität und Arbeit allgemeine Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und Alltagspraxen von Menschen aufgegriffen werden.
Es ist richtig, wir leben in einer Zeit, die durch Zerstörungen gekennzeichnet ist, die alle Arten des Lebens bedrohen, die das Leben bedrohen. Zerstörung und Ausbeutung von Natur, die Klimakatastrophe – Kriege, die das Leben Vieler auslöschen – Neoliberalismus, der nicht nur Arbeit, sondern auch alle anderen Ressourcen verknappt und prekarisiert, die zum Leben notwendig sind.
Doch von all diesen realen Bedrohungen ist in den rechtsautoritären Politiken nicht die Rede. Es ist eher so, dass Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse ein zentrales Prisma sind, durch das die Rechte gesellschaftliche Veränderungen (Transformationen von Erwerbsarbeit, Erosion männlicher Alleinernährer, Entscheidungsmacht von Frauen) politisiert. Widersprüche der Geschlechterverhältnisse in der liberalen Moderne werden aufgegriffen, um das anti-demokratische Projekt der autoritären Rechten voranzubringen (vgl. Sauer 2025).
Der zentrale Punkt ist, dass die moralische Panik um Geschlecht und Sexualität gleichsam Vorschläge von Versicherheitlichung und Kontrolle nahelegt und soziale Ungleichheit rechtfertigt. Autoritäre, anti-demokratische Politiken erscheinen als notwendige Lösung der als Krise dargestellten Transformationen und die Rechten bieten sich als Führungspersönlichkeiten an, die die Betrogenen und Verführten retten.
Kulturelle Hegemonie, so lässt sich schließen, spielt in der Erringung politischer Macht der autoritären Rechten eine zentrale Rolle. Die darin zentralen Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen sind nicht einfach nur als ein gleichstellungspolitischer Backlash zu verstehen. Es geht nicht nur um die Vorstellung, dass Frauen zurück an den Herd sollen und die Rechtfertigung heroischer Männlichkeit. Es geht um den Umbau des Staates und darin eben auch um Wissenschaftsfreiheit bzw. darum, was als Wissenschaftsfreiheit gilt. Oder wie Birgit Sauer es ausdrückt: „ (…) die rechte maskulinistische Konjunktur ist eine vorwärtsgewandte, zukunftsorientierte Strategie der Autoritarisierung und Ent-Demokratisierung“ (ebd. 269).
So gesehen geht es bei der Drohung, Gender Professor*innen rauszuschmeißen, nicht nur um einen Angriff auf Gender Studies, sondern auf die Wissenschaftsfreiheit per se. Es wird ein Präzedenzfall geschaffen, der sich beliebig auf andere wissenschaftliche Disziplinen und Arbeitsfelder ausweiten lässt und in den USA auch bereits ausgeweitet wird.
Thomas Faist: Kooperationslinien und Selbstzensur
Manchmal gilt es rote Linien in der transnationalen
Wissenschaftskooperation mit autoritären bzw. illiberalen Regimes zu
ziehen, also die Zusammenarbeit zu minimieren. Aber nicht immer sind
rote Linien auf der "Vorderbühne" (Erwing Goffman) ein geeignetes
Instrument des Umgangs. Bisher geglückt ist die Kooperation mit der
Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul, an der sich die
Fakultät für Soziologie beteiligt. Das rührt daher, dass es eine
Vereinbarung der beiden Außenministerien gibt, diese Kooperation
politisch nicht zu instrumentalisieren. Bisher halten sich sowohl die
deutsche als auch die türkische Seite daran. Oft ist die Zusammenarbeit
ein Drahtseilakt.
Wie können wir als Wissenschaftler:innen mit autoritären Drehbüchern
auch in Deutschland umgehen und Widerstand leisten? Laut einer aktuellen
Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung
(DZHW) gaben etwa 15 % der befragten Wissenschaftler:innen an, aus Angst
vor negativen Konsequenzen ein Thema nicht behandelt zu haben. Handelt
es sich dabei möglicherweise etwa um Konformismus oder Selbstzensur, um
z. B. nicht von den Fleischtöpfen der Drittmittelförderung
ausgeschlossen zu werden? Je mehr Wissenschaftler:innen selbst
Verantwortung für akademische Freiheit von Forschung und Lehre
übernehmen, desto geringer ist wohl die "Furcht vor der Freiheit", so
der deutsche Titel eines Werks von Erich Fromm.
Um autoritären Versuchungen und Konformismus entgegenzutreten, sind
nicht nur Bündnisse mit anderen Wissenschaftler:innen wichtig.
Einzubeziehen ist auch unser wichtigstes Publikum - die Studierenden und
Promovierenden.
Andreas Vasilache: Wissenschaftsfreiheit im autoritären Staat
Während schon seit mehr als einem Jahrzehnt die Wissenschaftsfreiheit in
Russland sukzessive eingeschränkt wird, markiert der Beginn des
großflächigen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine letztlich das
Ende der Wissenschaftsfreiheit in Russland.
Mit Februar 2022 hat eine intensive Welle der Verfolgung offener
und kritischer Wissenschaft eingesetzt, in deren Zuge zahlreiche
Wissenschaftler*innen entlassen wurden und/oder aus Russland geflüchtet
sind.
Zahlreiche Maßnahmen der Einschränkung und Verfolgung freier
und kritischer Wissenschaft kommen dabei aus den wissenschaftlichen
Einrichtungen selbst, da in Russland die Leitung von Universitäten und
Forschungseinrichtungen schon seit längerer Zeit in den Händen von
regierungsnahem, gleichsam aus Regierungssicht politisch „zuverlässigem“
Personal liegt. Dies ist auch der Grund, weshalb in Russland, anders als
aktuell in den USA, seitens der politischen Führung auch keine
allgemeine Wissenschaftsschelte betrieben wird - würde dadurch doch
impliziert werden, dass die wissenschaftlichen Einrichtungen nicht unter
der effektiven Kontrolle der Regierung stehen.
Fazit: Wissenschaftsfreiheit braucht aktive Verteidigung
Die Podiumsdiskussion zeigte eindrücklich, dass Wissenschaftsfreiheit kein abstrakter Wert ist, sondern zunehmend unter politischem Druck steht – sei es durch gezielte Anfeindungen, staatliche Kontrolle oder gesellschaftliche Polarisierung. Die Beiträge verdeutlichten, wie wichtig es ist, wachsam zu bleiben, sich zu vernetzen und demokratische Werte auch innerhalb der Wissenschaft zu verteidigen.
Die Beiträge der Podiumsdiskussion machten deutlich, dass Wissenschaftsfreiheit weltweit unter Druck steht – sei es durch autoritäre Regime, politische Kampagnen oder subtile Mechanismen wie Selbstzensur. Die Diskussion zeigte auch: Die Bedrohung trifft nicht alle gleich – manche Disziplinen, etwa Gender Studies, stehen besonders im Fokus autoritärer Narrative. Wissenschaftler:innen, Hochschulen und Studierende sind daher gefordert, nicht nur ihre eigene Freiheit zu schützen, sondern auch für die Bedingungen einzutreten, unter denen kritisches Denken und akademische Arbeit möglich bleiben.
Mit besten Grüßen
Die Fakultät für Soziologie
Literatur
Butler, Judith (2024): Who’s Afraid of Gender. New York: Farrar, Straus und Giroux
Sauer, Birgit (2025, im Erscheinen): Autoritär und erzliberal? Geschlecht und Demokratie in den Narrativen der östserreichischen und deutschen politischen Rechten. In: Bolokan, Dina/Dixit, Anukriti/Rutishauser, Melina/Wartmann, Julia (Hrsg.): Doing Gender Studies. Producing Knowledge Otherwise. Zürich: Seismo, S. 263-274.