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Kanon lesen neu gedacht? Die vielversprechende Verbindung von analog und digital.
Von Louisa-Sophie Wieske & Patricia Schindéle
Kanonische Texte neu lesen? Die Kombination von „klassischer“ Literaturwissenschaft und den Digital Humanities ermöglichten uns und einigen Lehramtsstudierenden im Sommersemester 2024 genau das.
Im Zuge des literaturwissenschaftlichen Seminars Kanonische Texte mit digitalen und analogen Mitteln lesen: Realismus und Naturalismus (230428), konzipiert von Prof. Dr. Berenike Herrmann und Dr. Mareike Gronich, konnten wir kanonische Texte mit innovativen technischen Möglichkeiten neu erleben.
Im Zentrum des Seminars stand die Beschäftigung mit der Lektüre von Texten, die rund um den Epochenumbruch „um 1900“ kanonisch häufig dem bürgerlichen/poetischen Realismus und Naturalismus zugeordnet werden.
Wir empfanden die Seminaratmosphäre als motivierend und angenehm, bedingt auch durch die anhaltend hohe Teilnehmer*innenzahl. Durch stetiges interaktives Arbeiten entwickelte sich über das Semester hin eine angenehme und produktive Arbeitsatmosphäre.
Neben einer Einführung in den Kanonbegriff und einer kritischen Auseinandersetzung mit Epochenbegriffen und Epochenzugängen haben wir uns intensiv mit dem Distant Reading beschäftigt. Während das Close Reading die „klassische Textarbeit“ widerspiegelt, bei der ein Text sorgfältig und präzise ins Zentrum der eigenen Analyse und Interpretation gestellt wird, wird beim Distant Reading mithilfe verschiedener (technischer) Tools und Programme der analytische Zugang zu einem größeren Textkorpus ermöglicht. Wir konnten die Praxis des Distant Readings im Seminar kennenlernen und die Dozierenden ermöglichten uns das eigene Ausprobieren und „Basteln“ mit Tools wie beispielsweise Voyant. Bei Voyant handelt es sich um ein digitales Lese- und Analysetool für Textkorpora. Die Arbeit mit Voyant war dabei ein völlig neuer Zugriff auf Literatur und vor allem Literaturkorpora. Aufgrund dessen stellte diese Arbeit einen spannenden Kontrast zu anderen Seminaren dar, die eher im Sinne einer „klassischen“ Literaturwissenschaft konzipiert waren. Die Zusammenführung von Literaturwissenschaften und Digital Humanities war dabei eine innovative und völlig neue Erfahrung für uns. Zudem ermöglichte der Besuch von Doktorand*innen der Digital Humanities die intensivere Auseinandersetzung mit dieser Fachrichtung und bot die Möglichkeit, konkrete Fragen zu stellen.
Das Interesse an dieser Art von Seminaren wurde durch die Veranstaltung nicht nur bei uns geweckt, was sich wohl auch durch die anhaltend hohe Teilnehmer*innenzahl bestätigen lässt. Gerade auch das Teamteaching war hier besonders gewinnbringend, da die Verbindung der beiden Sphären auch durch Prof. Dr. Berenike Herrmann und Dr. Mareike Gronich verkörpert wurde, die den Inhalt durch Ihre jeweiligen Expertisen in teils dialogischen Gesprächen besonders gut vermitteln konnten. Vor allem, weil sich in diesen Gesprächen Fragen oder Probleme ergeben haben, die so gemeinsam mit allen diskutiert werden konnten.
Für die meisten von uns Studierenden waren die Digital Humanities etwas, mit dem wir bisher kaum oder gar nicht in Berührung gekommen sind. Es war spannend zu erfahren, welche Untersuchungsmöglichkeiten die Tools bieten, die vorher nicht möglich waren, wie Fragestellungen des Close Readings so operationalisiert werden konnten, dass sie für Voyant fruchtbar wurden und wie beide gemeinsam beeindruckend differenzierte und umfangreiche Analyseergebnisse hervorbringen konnten. Dies fand seinen Höhepunkt in den in Partner*innenarbeit erarbeiteten Postern, die das Ergebnis einer solchen Untersuchung und Analyse unterschiedlicher literarischer Werke des Realismus und Naturalismus waren und in einer Art Museumsrundgang im Seminar gemeinsam betrachtet und besprochen werden konnten.
Insbesondere auch für Lehramtsstudierende und die Perspektive Schule und Unterricht, verspricht diese Verbindung von Distant- und Close Reading wirkungsvoll zu sein. Sie könnte in dem oft festgefahrenen Umgang mit Literatur, genauer gesagt kanonischen Klassikern, an der Schule die Möglichkeit bieten, unterschiedliche und neue Zugänge zu Literatur zu schaffen. Voyant und andere Tools des Distant Readings bieten nicht nur durch die Digitalität eine Verbindung zur Lebenswelt der Schüler*innen, sondern ermöglichen durch ihr strukturiertes System und die mathematischen Hintergründe auch, der heterogenen Klasse gerechter zu werden. Vor allem Schüler*innen, die sich durch das klassische „Besprechen“ von Literatur im Unterricht nicht oder wenig angesprochen und abgeholt fühlen oder ihre Stärken beispielsweise tendenziell in den MINT-Fächern verorten, könnten hier mit ihren Fähigkeiten Erfolgserlebnisse erfahren und so auch Interesse an Literatur gewinnen.
Wir persönlich würden uns freuen, facettenreiche und verbindende Seminare wie dieses häufiger im Studienangebot zu finden.
Diese Veranstaltung ist im Rahmen vom Projekt BiLinked entstanden, in dem Studierende und Lehrende gemeinsam digitale Lehr-/Lernformate entwickeln und erproben. Bei der Umsetzung stehen die studentische Partizipation und Kollaboration im Fokus.