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Wie Wasserkraftwerk-Turbulenzen auf Seeschwalben wirken (Nr. 67/2021)
Erstmals Drohnen eingesetzt, um Strömung und Suchflüge aufzuzeichnen
Gezeitenkraftwerke nutzen das An- und Absteigen des Meeresspiegels zur Energiegewinnung. Ihre Auswirkungen auf die Umwelt sind bisher kaum erforscht. Eine aktuelle internationale Studie zeigt: Gezeitenkraftwerke beeinflussen, wie Seeschwalben nach Nahrung suchen. Für die Studie kooperierten Forschende der Universität Bielefeld, der Queen’s University Belfast (Nordirland) und der University of Plymouth (England). Erstmals wurden Drohnen eingesetzt, um die Bewegungen von Schwalben und die turbulenten Nachströme der Kraftwerke zeitgleich zu verfolgen. Die Analyse der umfangreichen Daten präsentiert das Forschungsteam in der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences.
Wenn die Gezeiten um den Turbinenturm strömen, bilden sich kräftige Wasserstrudel, auch bekannt als Kármánsche Wirbelstraße. Diese turbulente Strömung wurde zuvor in einer Studie als Sammelpunkt der Seeschwalben identifiziert, die im Umfeld des Gezeitenstroms angesiedelt sind: Fluss-, Küsten- und Brandseeschwalben. Die meisten Seeschwalben sind dort bei der Nahrungssuche zu beobachten, wo es zu den stärksten Turbulenzen kommt.
Die zierlichen Seeschwalben ernähren sich hauptsächlich von kleinen Fischen nahe der Wasseroberfläche. Als Stoßtaucher inspizieren sie die Wasseroberfläche zunächst in einem langsamen Suchflug. Entdeckt eine Schwalbe dabei einen Fisch, stürzt sie sich meist aus dem Rüttelflug ins Wasser, um die Beute aufzupicken.
„Mit unserer Analyse konnten wir zeigen, dass die durch das Gezeitenkraftwerk veränderten Strömungsmuster und die Suchbewegungen der Seeschwalben zusammenhängen“, sagt Professor Dr. Roland Langrock von der Universität Bielefeld. Der Professor für Statistik und Datenanalyse ist Co-Autor der Studie. Er ist Mitglied des Zentrums für Statistik der Universität Bielefeld und unterstützt darüber Wissenschaftler*innen in unterschiedlichen Disziplinen – insbesondere der Biologie – bei der Analyse umfänglicher Daten.
„Durch die jetzige Auswertung können wir belegen, dass der Nachstrom des Gezeitenkraftwerks Seeschwalben den Fischfang erleichtert“, sagt die Meeresökologin Dr. Lilian Lieber, Leiterin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bryden Centre der Queen’s University Belfast (Nordirland). „Wir konnten feststellen, dass Seeschwalben aktiv über Wirbeln nach Beute suchen. Die starke Wasserbewegung kann die Orientierung von Fischen und anderer möglicher Beute stören und sie an die Wasseroberfläche bringen – so wird den Seeschwalben an diesen Stellen die Beute zugänglicher gemacht.“
„Die Drohne bot erstmals eine echte Vogelperspektive, um die Dynamik der Turbulenzen aufzuzeichnen, und ermöglichte uns gleichzeitig, aus großer Entfernung das Suchverhalten der Seeschwalben aufzunehmen, ohne ihr Verhalten zu stören“, sagt Dr. Alex Nimmo-Smith, Co-Autor und Associate Professor für physikalische Ozeanographie an der University of Plymouth. Er leitete die Entwicklung der automatischen und zuverlässigen Verfolgung der Seeschwalben mithilfe von künstlicher Intelligenz. Roland Langrock ergänzt: „Dank der extrem hochaufgelösten Tierbewegungsdaten können wir Verhaltens- und Entscheidungsprozesse äußerst detailliert aufzeigen und untersuchen. Das Projekt brachte einige statistische Herausforderungen mit sich und ist aus meiner Sicht gerade durch den stark interdisziplinären Charakter ein wertvoller Beitrag auf dem Gebiet der Bewegungsökologie.“
Die Studie zeigt: Kraftwerke im Meer können dazu beitragen, dass bestimmte Meeresregionen gemieden oder bevorzugt aufgesucht werden, mit bisher unbekannten Auswirkungen auf Populationsentwicklungen. „Die Gezeitenkraftwerke können das Auftreten, den Umfang und die Intensität turbulenter Strukturen stromabwärts deutlich verändern – und das hat Folgen für das Verhalten von Küstenvögeln“, erklärt Lilian Lieber. „Weil sich die Anlagen so stark auswirken, ist es wichtig, die durch die Anlage veränderten Strömungen zu beobachten und zu analysieren. Auch muss geklärt werden, wie Tiere in ihrem Verhalten durch die Anlagen beeinflusst werden.“ So können Gezeiten- und Wellenkraftwerke ebenso wie Offshore-Windparks von Meereslebewesen bevorzugt aufgesucht werden, können aber auch als Barrieren wirken oder eine Kollisionsgefahr darstellen. „Erkenntnisse, die mit unseren jetzt angewandten Methoden gewonnen werden, können Impulse geben, die möglichen ökologischen Auswirkungen auf Meereslebewesen ganzheitlicher zu betrachten“, sagt Lilian Lieber.
Lilian Lieber, Roland Langrock, W. Alex M. Nimmo-Smith: A bird's-eye view on turbulence: seabird foraging associations with evolving surface flow features. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0592, veröffentlicht am 28. April 2021.
Weitere Informationen:
Videoclip mit Ergebnissen der Studie („A bird's eye view on turbulence“, deutsch: Vogelperspektive auf Turbulenzen)