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Wie Spielkarten das Lesetempo beeinflussen
Angenommen, ein Ehemann blickt morgens im Bad auf die Zahnputzbecher, während er über die Beziehung zu seiner Frau nachdenkt: Stehen diese eng beieinander, kommt ihm die Beziehung innig vor. Ist der Abstand groß, fühlt er eine innere Distanz. Eine abwegige Unterstellung? Keineswegs: Sprachwissenschaftler der Universität Bielefeld haben gezeigt, dass der Abstand zwischen Gegenständen sich darauf auswirken kann, wie Menschen über abstrakte Zusammenhänge und Ideen nachdenken – auch dann, wenn diese nichts mit den Gegenständen zu tun haben. Ihre Studie haben sie in dem Fachmagazin „Cognition“ veröffentlicht.
Die Annahme hinter der Studie: Das, was Menschen sehen, hat auch dann Einfluss auf ihr Sprachverständnis, wenn es um abstrakte sprachliche Ideen geht und sogar dann, wenn das Gesehene mit diesen Konzepten nichts zu tun hat. In einem Experiment mit insgesamt 32 Versuchspersonen hat Knoeferles Mitarbeiter Dr. Ernesto Guerra geprüft, ob diese Annahme zutrifft. Ein Bildschirm zeigte den Personen Spielkarten. Diese Karten bewegten sich entweder aufeinander zu oder entfernten sich voneinander. Damit wurde räumliche Entfernung von Gegenständen dargestellt.
Nachdem eine Versuchsperson sich
die Karten angeschaut hatte, wurde ein Satz eingeblendet. Der Satz stand
in keiner Verbindung zu den Karten. Er drückte entweder einen
Zusammenhang oder einen Widerspruch zwischen abstrakten Begriffen aus.
Ein Beispiel für Widerspruch ist der Satz „Frieden und Krieg sind
bestimmt verschieden, das verriet der Anthropologe“. Ein Beispiel für
einen Zusammenhang lautet: „Kampf und Krieg sind freilich entsprechend,
das verriet der Anthropologe“.
Nun registrierten die Forscher,
wie schnell die Personen den Satz verstehen. Sie gehen davon aus, dass
das Verständnis mit der Lesegeschwindigkeit einhergeht. Per Eyetracking
stellten sie daher fest, wie schnell die Personen den Satz lesen. Die
Eyetracking-Technik misst Blickbewegungen mit einer speziellen Kamera.
Dabei
kam heraus, dass die Distanz von Gegenständen sich auf das Verständnis
des Satzes auswirkt. „Je weiter die Karten voneinander entfernt waren,
desto schneller konnten die Personen Sätze lesen, die einen Widerspruch
ausdrücken“, erklärt Ernesto Guerra. Gleichzeitig zeigte sich: Je näher
die Karten nebeneinander lagen, desto schneller wurden Sätze gelesen,
die Ähnlichkeit ausdrücken. „Die Entfernung der Spielkarten beeinflusst
damit das Verständnis von semantischer, also bedeutungsmäßiger
Ähnlichkeit“, sagt Guerra.
„Verblüffend ist, dass dieser Effekt
schon eintritt, bevor die Versuchspersonen den Text zu Ende gelesen
haben“, berichtet Pia Knoeferle. Räumliche Distanz kann sich demnach
sehr früh auf das Leseverständnis semantisch gleicher oder ungleicher
Konzepte auswirken. „Die Studie zeigt sehr deutlich, welche wichtige
Rolle feine visuelle Signale für das Verständnis von abstrakten
sprachlichen Konzepten spielen“, sagt die Sprachwissenschaftlerin.
Die
Erkenntnisse aus der Studie könnten Lehrkräfte beispielsweise im
Deutschunterricht in der Grundschule nutzen. Dort lernen die Kinder, zu
klassifizieren, also Sachen zu Gruppen zusammenzufassen. „Eine Übung wie
mit den Spielkarten könnte den Kindern helfen, schneller Ähnlichkeiten
und Unterschiede zu begreifen“, mutmaßt Knoeferle.
Ernesto Guerra, Pia Knoeferle: Effects of object distance on incremental semantic interpreta-tion: similarity is closeness. Cognition, http://dx.doi.org/10.1016/j.cognition.2014.07.007, erschienen im Oktober 2014.
Weitere Informationen im Internet:
wwwhomes.uni-bielefeld.de/pknoeferle/Homepage/Home.html