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Tanzende Elektronen verlieren das Rennen
Bielefelder Physiker publizieren im Forschungsmagazin „Science“
Atome
stoßen Elektronen aus, wenn ein Material mit Licht ausreichend hoher
Frequenz bestrahlt wird. Bisher ging die Physik davon aus, dass die
Bewegung dieser Photoelektronen durch die Materialeigenschaften bestimmt
ist. Physiker der Universität Bielefeld zeigen in einer neuen Studie,
dass es auch auf das Zusammenspiel der Elektronen im Inneren des Atoms
ankommt: „Tanzende“ Elektronen umkreisen dabei den Atomkern und brauchen
länger als andere Elektronen, die geradeaus herausschießen. Als
weltweit ersten Forschenden gelang es den Bielefeldern, diesen
Verzögerungseffekt in einem Festkörper nachzuweisen. Die Studie ist am
heutigen Freitag (22.09.2017) im Wissenschaftsmagazin „Science“
erschienen. Für die Forschung haben die Experimentatoren eng mit Kollegen aus der theoretischen Physik am Donostia International Physics Center (DIPC) und der Universität des Baskenlandes (San Sebastián, Spanien) zusammengearbeitet.
„Für
unsere Studie zur Elektronen-Emission haben wir eine Art Wettrennen
zwischen Elektronen mit unterschiedlichen Startbedingungen
durchgeführt“, sagt Professor Dr. Walter Pfeiffer. Das Team am Lehrstuhl
für Molekül- und Oberflächenphysik der Universität Bielefeld um ihn und
Professor Dr. Ulrich Heinzmann nutzt zeitaufgelöste Laserspektroskopie
als Verfahren: „Wir haben Laserstrahlung eingesetzt und ultrakurze
Lichtimpulse auf einen Halbleiterkristall geschossen. Dies startet das
Rennen. Mit einem sehr intensiven zweiten Lichtimpuls wird die Zeit
genommen und bestimmt, in welcher Reihenfolge die ausgelösten Elektronen
das Material verlassen.“ Dafür war eine sehr hohe Zeitauflösung nötig.
„Wir
sprechen hier von äußerst winzigen Zeitabschnitten“, sagt Pfeiffer. Das
Verfahren gehört zum noch jungen Gebiet der Attosekunden-Lasertechnik.
Die Ankunft der Elektronen wird mit einer Auflösung von etwa zehn
Attosekunden bestimmt. Eine Attosekunde ist ein Millardstel einer
Millardstel Sekunde. Die Zeitauflösung im Experiment verhält sich zu
einer Sekunde in etwa wie eine Sekunde zum Alter des Universums.
Die
Laserexperimente brachten ein unerwartetes Ergebnis: „Eigentlich
schnellere Elektronen kommen als letzte an“, sagt Pfeiffer. „Das liegt
daran, dass sie sich zunächst noch in einer Umlaufbahn um den Atomkern
befinden, bevor sie sich auf den Weg zur Materialoberfläche machen und
austreten. Elektronen, die um den Atomkern herum tanzen, verlieren somit
das Rennen.“ Andere Elektronen fliegen laut Pfeiffer geradeaus aus dem
Atom. „Das ist vergleichbar mit einer Rakete, die geradeaus ins All
geschossen wird und nicht erst die Erde umkreist.“ Weil das eigentlich
langsamere Elektron den direkten Weg nimmt, gewinnt es das Rennen.
Ob und wie lange ein Elektron um den Kern tanzt, hängt von seinen
Startbedingungen ab. „Das Halbleitermaterial, das wir verwendet haben,
bietet vier photoelektrische Ausgangskanäle mit unterschiedlichen
Startbedingungen für die Elektronen“, sagt Pfeiffer. Erst der Vergleich
dieser vier Kanäle hat Pfeiffer zufolge die weitreichenden
Schlussfolgerungen der nun veröffentlichten Studie ermöglicht.
„Unsere Beobachtung, dass schnelle Elektronen länger brauchen können, um
auszutreten, bedeutet, dass eine bisherige theoretische Annahme zur
Beschreibung des Photoeffektes geändert werden muss“, sagt der
Experimentalphysiker Pfeiffer. „In neuen theoretischen Modellen der
Photoemission aus Festkörpern muss künftig berücksichtigt werden, wie
die Elektronen im Atom, das die Photoelektronen ausstößt,
zusammenspielen. Der Tanz der Elektronen nach Anregung muss also korrekt
behandelt werden.“
Bei der Interpretation der Bielefelder
Experimente war die Zusammenarbeit mit theoretischen Physikern des
Donostia International Physics Center an der Universität des
Baskenlandes in San Sebastián (Spanien) entscheidend. Sie berechneten,
wie sich die Elektronen im Atom und in dem Halbleiterkristall
ausbreiten. Ebenfalls an der Studie beteiligt waren: das Institut für
Solare Brennstoffe am Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und
Energie, die Basque Foundation for Science (Spanien), das Skobeltsyn
Institute of Nuclear Physics der Lomonosov Moscow State University in
Moskau (Russland), das Unternehmen European XFEL GmbH in Schenefeld bei
Hamburg, das Helmholtz-Institut Jena und das Centro de Física de
Materiales CFM/MPC in San Sebastián (Spanien).
Originalveröffentlichung:
Fabian
Siek, Sergej Neb, Peter Bartz, Matthias Hensen, Christian Strüber,
Sebastian Fiechter, Miquel Torrent-Sucarrat, Vyacheslav M. Silkin,
Eugene E. Krasovski, Nikolay M. Kabachnik, Stephan Fritzsche, Ricardo
Díez Muiño, Pedro M. Echenique, Andrey K. Kazansky, Norbert Müller,
Walter Pfeiffer, Ulrich Heinzmann: Angular momentum induced delays in
solid state photoemission enhanced by intra-atomic interactions.
Science. https://doi.org/10.1126/science.aam9598, erschienen am 22. September 2017.
Weitere Informationen:
Lehrstuhl für Molekül- und Oberflächenphysik: http://www.physik.uni-bielefeld.de/mop