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Irrtum aufgeklärt: Antriebsgelenk der Stabheuschrecke entdeckt
Forschende der Universität Bielefeld analysieren Bewegung des sechsbeinigen Insekts
Die
Stabheuschrecke ist in der Biologie ein beliebtes Untersuchungsmodell,
um Laufbewegungen bei Insekten zu verstehen. Ihr Vorteil: Körper und
Nervensystem sind vergleichsweise einfach aufgebaut. In Lehrbüchern
wurde über Jahrzehnte behauptet, dass die Kraft zur Stützung des Körpers
und die Kraft zur Fortbewegung unabhängig voneinander von verschiedenen
Gelenken geregelt werden. „Das ist nicht richtig“, sagt jetzt der
Biologe Chris Dallmann. „Tatsächlich ist ein und dasselbe Gelenk für
beide Aufgaben zuständig. Das können wir mit unseren neuen Analysen
belegen“, sagt der Doktorand des Exzellenzclusters Kognitive
Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld. Die
Forschungsergebnisse stellt Dallmann zusammen mit den Professoren Dr.
Volker Dürr und Dr. Josef Schmitz im Fachmagazin „Proceedings of the
Royal Society“ vor. Die New York Times präsentiert das
Forschungsergebnis seit gestern (15.2.2016) in einem Videobeitrag.
Noch vor kurzem waren sich Biologen weltweit sicher, dass die Kraft für die Vorwärtsbewegung der Stabheuschrecke aus dem Gelenk kommt, um das sich das Bein rückwärts bewegt. „Der Grund für die falsche Annahme war, dass die Messmethoden zu ungenau waren“, berichtet Josef Schmitz. „Stabheuschrecken wiegen nur etwa ein Gramm. Wegen des geringen Gewichts ließ sich bisher nur sehr schlecht berechnen, welche Kraft die einzelnen Beinglieder ausüben.“
Die Forschungsgruppe Biologische Kybernetik
hat ein neues Verfahren entwickelt, das mit dem Leichtgewicht der
Stabheuschrecke zurechtkommt. Es misst zum einen sehr präzise die
Kräfte, die das ganze Bein auf den Boden ausübt. Zum anderen misst es
mit hoher zeitlicher Auflösung, wie sich das Bein im Raum bewegt. „Indem
ich diese beiden Datenpakete kombiniere, kann ich berechnen, wie viel
Kraft jedes einzelne Gelenk freisetzt“, erklärt Dallmann. So kann er
zeigen, welches Gelenk die Bewegung antreibt und welche Gelenke die
Antriebskraft lediglich umleiten.
Jedes der sechs Beine der
Stabheuschrecke wird maßgeblich von drei Gelenken bewegt. Wie ein „L“
sind sie mit dem Körper des Tieres verbunden. Ein Hüftgelenk
(Thorax-Coxa-Gelenk) verbindet das Bein mit dem Körper, und um dieses
Gelenk bewegt sich das Bein rückwärts. Ein zweites Hüftgelenk
(Coxa-Trochanter-Gelenk) verbindet die Hüfte mit dem Oberschenkel, um
dieses Gelenk bewegt sich das Bein nach unten. Ein Kniegelenk
(Femur-Tibia-Gelenk) verbindet schließlich den Oberschenkel mit dem
Unterschenkel, um dieses Gelenk bewegt sich das Bein nach außen.
Um
herauszubekommen, wie viel Kraft die einzelnen Beingelenke der
Stabheuschrecke erzeugen, ließ Dallmann die Tiere auf einem Steg mit
Trittsteinen laufen. Sensoren in den Trittsteinen erfassen den Druck und
die Querkräfte, die von den Füßen der Stabheuschrecke ausgehen.
Gleichzeitig zeichnete Dallmann den Gang des Insekts mit einem System
zur Bewegungserfassung auf. Das Vicon-System registriert mit
Infrarotkameras die Bewegung von 17 kleinen Reflektoren (Markern), die
an dem Außenskelett der Stabheuschrecke kleben. „Als wir die Messung der
Bewegung und der Bodenreaktionskräfte zusammengebracht haben, wurde
klar, dass der Vortrieb gar nicht durch das Hüftgelenk erfolgt, um das
sich das Bein nach hinten bewegt“, so Dallmann. „Vielmehr entsteht der
Vortrieb automatisch dadurch, dass der Oberschenkel stark nach unten
drückt, um den Körper zu stützen.“ Forscher dachten bislang, das
Herunterdrücken des Schenkels diene alleine der Körperunterstützung.
Die
neuen Erkenntnisse dürften nicht nur Änderungen in den Lehrbüchern mit
sich bringen. Das Wissen soll auch mit der künstlichen Stabheuschrecke
Hector erprobt werden. „Der Roboter ist ähnlich der Stabheuschrecke mit
elastischen Antrieben ausgestattet“, sagt Chris Dallmann. „Wir wollen
jetzt testen, welche Vorteile es hat, wenn ein Antrieb wie beim
tierischen Vorbild sowohl die Körperhöhe als auch die Fortbewegung
regelt.“
Chris Dallmann befasst sich in seiner Doktorarbeit
mit der Frage, wie Stabheuschrecken ihr Gehen an die Umgebung anpassen.
Er ist seit Ende 2013 Mitglied der CITEC-Graduiertenschule. Die
Einrichtung ist 2008 gegründet worden und sorgt für die weiterführende
wissenschaftliche Qualifikation in der Kognitiven
Interaktionstechnologie an der Universität Bielefeld. Derzeit hat die
Graduiertenschule rund 100 Mitglieder.
Originalartikel:
Chris
Dallmann, Volker Dürr, Josef Schmitz: Joint torques in a freely walking
insect reveal distinct functions of leg joints in propulsion and
posture control. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences
283 (1823). 20 January 2016.DOI: 10.1098/rspb.2015.1708, erschienen am
20. Januar 2016.
Weitere Informationen im Internet:
• Videobeitrag der New York Times: www.nytimes.com/2016/02/15/science/stick-insect-helps-scientists-study-how-animals-move.html
• Video zu Hector bei research_tv („Eine Roboter-Stabheuschrecke lernt laufen“): youtu.be/1DB6bd61i0o
• Roboter-Stabheuschrecke Hector macht ihre ersten Schritte (Pressemitteilung vom 15.12.2014): ekvv.uni-bielefeld.de/blog/uniaktuell/entry/roboter_stabheuschrecke_hector_macht_ihre
• Ein Roboter mit Bewusstsein (Pressemitteilung vom 20.12.2013): ekvv.uni-bielefeld.de/blog/pressemitteilungen/entry/ein_roboter_mit_bewusstsein_nr
• Ein Roboter soll sich selbst wahrnehmen (Pressemitteilung vom 25.03.2015): ekvv.uni-bielefeld.de/blog/pressemitteilungen/entry/ein_roboter_soll_sich_selbst
• Forschungsgruppe „Biologische Kybernetik“: www.uni-bielefeld.de/biologie/Kybernetik