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Erst die Krankheit entdeckt, jetzt die Patienten
Bielefelder Biochemiker bestätigen Ursache für zunächst unklare Symptome
Die
Entschlüsselung des menschlichen Genoms macht es möglich:
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können heute potenzielle
Erbkrankheiten entdecken, zu denen noch kein Patient bekannt ist. Eine
solche Krankheit ist „MPS III-E“, nach ihrem Entdecker ursprünglich auch
„Dierks‘sche Krankheit“ genannt. Ärzte im Hadassah-Hebrew University
Medical Center in Jerusalem (Israel) stellten in drei Patientenfamilien
übereinstimmende Symptome einer fortschreitenden Erblindung fest, die
auf einen bislang unbekannten Gendefekt hindeuteten. Genomanalysen an
der Universität Lausanne (Schweiz) lieferten ein Kandidaten-Gen, zu dem
Professor Dr. Thomas Dierks von der Universität Bielefeld bereits 2012
einen Forschungsartikel veröffentlicht hatte. Nach Untersuchungen des
Teams um Dierks steht nun fest – die Patienten haben tatsächlich „MPS
III-E“. Ihre Analyse haben die Forschenden jetzt in dem Journal
„Genetics in Medicine“ veröffentlicht, das im Nature-Verlag erscheint.
Die Bielefelder Wissenschaftler hatten die Krankheit an Mäusen untersucht. Sie schalteten in den Tieren das Gen ab, das für die Herstellung des Enzyms Arylsulfatase G zuständig ist. So sorgten sie dafür, dass das Kohlenhydrat Heparansulfat nicht mehr vollständig abgebaut werden konnte.
„Das Kohlenhydrat reichert sich
dadurch in den Zellen an“, erklärt Thomas Dierks. Das passiert in den
Lysosomen, den „Recyclinganlagen“ der Zellen. Durch die
Stoffwechselstörung kommt auch der Abbau anderer Stoffe wie Fette und
Proteine nach und nach zum Erliegen. Das Lysosom dehnt sich durch die
„Vermüllung“ aus und zerstört so die Zelle – und das ruft die Symptome
der Krankheit hervor.
Um sicherzugehen, dass das mutierte Gen
der Patienten auch tatsächlich zu dem Enzym-Defekt führt, untersuchte
das Team von Dierks das Patienten-Gen in einer Zellkultur. Die
Zellkultur stellte das Enzym (Arylsulfatase G) her. Das Ergebnis: „Das
Enzym war tatsächlich stark beschädigt. Es kann das Heparansulfat nicht
aufspalten“, sagt Dierks.
Weil jetzt die Ursache der Symptome feststeht, kann über eine Enzym-Ersatz-Therapie der Patienten nachgedacht werden. „Das benötigte Enzym lässt sich mit Hilfe von Zellkulturen biotechnologisch herstellen“, sagt Dierks. Für die Therapie wird das Enzym intravenös gespritzt, verteilt sich über den Blutkreislauf im Körper und sollte in den Geweben das Heparansulfat abbauen. „Allerdings ist das Gehirn für das Enzym schwer zu erreichen. Außerdem müsste die Krankheit bereits vor Auftreten der Symptome über Gentests diagnostiziert werden, damit die Therapie vor der Ausbildung irreparabler Schäden begonnen werden kann.“ Nachdem jetzt bekannt ist, zu welchen Symptomen die Erbkrankheit bei Menschen führt, geht Dierks davon aus, dass der Gendefekt bei weiteren Personen diagnostiziert wird. „Weitere Patienten dürften sich vor allem unter den ungeklärten Fällen mit Usher-Syndrom finden lassen – so wird ein kombinierter Seh- und Hörverlust bezeichnet.“
An der Studie waren neben der Universität Bielefeld beteiligt: das Hadassah-Hebrew University Medical Center in Jerusalem (Israel), die Universität Lausanne (Schweiz), die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institute of Technology Technion in Haifa (Israel) und die University of Leicester (Großbritannien).
Originalveröffentlichung:
Samer Khateb, Björn Kowalewski, Nicola Bedoni, Markus Damme, Netta Pollack, Ann Saada, Alexey Obolensky, Tamar Ben-Yosef, Menachem Gross, Thomas Dierks, Eyal Banin, Carlo Rivolta, Dror Sharon: A homozygous founder missense variant in arylsulfatase G abolishes its enzymatic activity causing atypical Usher syndrome in humans. Genetics in Medicine. http://doi.org/10.1038/gim.2017.227, erschienen am 4. Januar 2018.
Weitere Informationen:
Forscher entdecken Enzym-Erbkrankheit (Pressemitteilung vom 11.06.2012): http://bit.ly/2jSh4c6
Kontakt:
Prof. Dr. Thomas Dierks, Universität Bielefeld
Fakultät für Chemie, Arbeitsgruppe Biochemie I
Telefon: 0521 106-2092
E-Mail: thomas.dierks@uni-bielefeld.de