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Auch Intensivtäter finden den Weg in die Normalität
Studie beleuchtet erstmals in Deutschland, wie sich Jugendkriminalität im Altersverlauf entwickelt
Lassen
sich individuelle Verläufe von Gewaltkriminalität im Jugendalter
vorhersagen? Schrecken harte Strafen wirklich ab? Wie wirkt sich der
Konsum von Gewaltfilmen auf Jugendliche aus? Auf diese und andere Fragen
suchen Kriminologen immer wieder nach Antworten. Die von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) seit zwölf Jahren geförderte Langzeitstudie
„Kriminalität in der modernen Stadt“ unter Leitung des Kriminologen
Professor Dr. Klaus Boers (Westfälische Wilhelms-Universität Münster,
WWU) und des Soziologen Professor Dr. Jost Reinecke (Universität
Bielefeld) bringt nun Licht ins Dunkel. Die Studie unterscheidet sich
von bisherigen Untersuchungen vor allem dadurch, dass einmalige
Befragungen lediglich Momentaufnahmen lieferten, aber nichts über die
individuelle Entwicklung der Kriminalität aussagten. „Es gibt bisher
keine vergleichbare Studie in Deutschland, die delinquentes Verhalten
für Jugendliche und junge Erwachsene im Altersverlauf erfasst“,
unterstreicht Jost Reinecke den Wert der Studie.
Auf Basis
einer jährlich wiederholten und anonymen Befragung von rund 3.400
Duisburger Jugendlichen gibt die Untersuchung einen einzigartigen und
profunden Überblick über den Einfluss von Wertorientierungen,
Erziehungsstilen, Freundesgruppen, Gewaltmedien, Migrationshintergrund,
Präventionsmöglichkeiten und über die Wirkung strafrechtlicher
Sanktionen. Zu Beginn der Befragung im Jahr 2002 waren die Jugendlichen
durchschnittlich 13 Jahre alt. Bis zum 20. Lebensjahr wurden immer
dieselben Jugendlichen jährlich befragt, seitdem jedes zweite Jahr bis
zum 24. Lebensjahr. Die Wissenschaftler bekamen Einblicke in das
Dunkelfeld der Kriminalität, indem die jungen Menschen über Straftaten
berichteten, die in keiner offiziellen Statistik auftauchen. Zusätzlich
werteten sie (Hellfeld-)Daten über Verurteilungen und
Verfahrenseinstellungen aus. Zwar stammen die Angaben und Daten der
Studie ausschließlich aus Duisburg – die Wissenschaftler sind aber davon
überzeugt, dass sich viele Ergebnisse auch auf andere deutsche
Großstädte übertragen lassen.
Die aktuellen Befunde widerlegen
nicht nur gängige Vorurteile, sondern geben auch der Polizei und Justiz
wichtige Hinweise für die Kriminalprävention und den Umgang mit
jugendlichen Straftätern. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:
Viele Jugendliche begehen bis zum 18. Lebensjahr mindestens einmal eine in aller Regel leichte oder mittelschwere Straftat
(beispielsweise Ladendiebstahl) – dies sind rund 84 Prozent der Jungen
und 69 Prozent der Mädchen. Bei den meisten erledigen sich solche
Episoden noch im Jugendalter ohne Eingriff von Polizei oder Justiz. Nach
einem schnellen Anstieg zum Ende des Kindesalters geht die Delinquenz
bereits ab dem 15. bis 16. Lebensjahr wieder weitgehend zurück. Zudem
sind Mädchen stärker belastet als bisher angenommen. Der
Delinquenzrückgang geschieht weitgehend ohne Intervention durch die
Polizei oder Justiz. Er ist Ausdruck einer erfolgreichen Vermittlung von
Werten und Normen durch Familie und Schule. Dieser positive Prozess
wird im Jugendstrafrecht zu Recht durch weit verbreitete
Verfahrenseinstellungen bei Erst- und gelegentlich handelnden Tätern
unterstützt.
Problematisch sind die sogenannten Intensivtäter:
Sie machen nur sechs bis acht Prozent ihrer Altersgruppe aus, begehen
aber die Hälfte aller Taten und mehr als drei Viertel der Gewaltdelikte.
Früher ging man davon aus, dass diese Gruppe bis in das
Erwachsenenalter gewalttätig bleibt. Die Studie widerlegt diese These im
Einklang mit internationalen Forschungsbefunden und zeigt, dass die
Zahl der Delikte auch bei Intensivtätern – wenn auch zum Teil erst zum
Ende des Jugendalters – deutlich zurückgeht. Insbesondere ein
erfolgreicher Übergang in das Erwerbsleben sowie stabile soziale
Bindungen unterstützen den oft schwierigen Weg in die Normalität.
Migranten sind in Duisburg nicht häufiger an Gewaltdelikten beteiligt als einheimische Jugendliche.
Als präventive Faktoren werten die Wissenschaftler stabile familiäre
und nachbarschaftliche Bindungen, ein gutes Schulklima sowie eine
erfolgreiche Ausbildung. Die Orientierung an traditionellen und
religiösen Werten geht außerdem mit weniger Alkoholkonsum und einem
gemäßigteren Freizeitverhalten einher. Die Studie belegt, dass vor allem
eine stärkere Bildungsbeteiligung ein wesentlicher Schlüssel zur
Verringerung der Straffälligkeit von jungen Migranten ist: Je besser die
Einbindung in das Bildungssystem gelingt, desto mehr verliert die
Gewalt an Attraktivität.
Der Konsum von Gewaltfilmen erhöht die Neigung, Gewalttaten zu begehen.
Zwar gibt es nur selten eine direkte Verstärkung des Gewaltverhaltens
durch den Konsum von Gewaltfilmen. Es kann aber zu einer problematischen
indirekten Wirkung kommen: Der Konsum steigert die Befürwortung von
Gewalt - und je stärker Gewalt befürwortet wird, desto häufiger kommt es
zu Gewalttaten.
Strafen schrecken nicht ab – im Gegenteil:
Haftstrafen können den Kontakt zu gewaltbereiten Gruppen fördern und
soziale Bindungen schwächen. Die Forscher empfehlen deshalb,
strafrechtliche Eingriffe auf das Notwendige zu beschränken.
„Die
für Jugendliche typische, gelegentliche Delinquenz regelt sich
weitgehend von selbst. Erfreulich ist, dass auch Intensivtäter – wenn
auch später – den Weg in die Normalität finden“, bilanziert Klaus Boers.
Weitere Informationen im Internet:
Homepage der Studie „Kriminalität in der modernen Stadt“: www.krimstadt.de
Institut für Kriminalwissenschaften der WWU Münster: www.jura.uni-muenster.de/kriminologie
Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld: www.uni-bielefeld.de/soz/personen/reinecke