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„Antisemitismus bedroht jüdisches Leben und Demokratie in Deutschland und Europa“
Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus: Institut für
interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung stellt Analysen vor
70
Jahre nach Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist der
Antisemitismus immer noch stark ausgeprägt und erscheint in Teilen der
deutschen Bevölkerung fest verankert zu sein. „Unsere aktuellen Studien
zeigen einen beachtlichen Anteil von 18 Prozent der Deutschen, der die
Auffassung vertritt: ,Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren
Verfolgungen mitschuldig‘“, sagt Professor Dr. Andreas Zick, Direktor
des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG)
der Universität Bielefeld. Zusammen mit Professorin Dr. Beate Küpper von
der Hochschule Niederrhein, einer assoziierten Wissenschaftlerin des
IKG, stellte er am heutigen Holocaust-Gedenktag (27.01.2015) neue Zahlen
und Ergebnisse zu antisemitischen Einstellungen in der deutschen
Bevölkerung vor. Professor Dr. David Schlangen präsentierte seine
Analyse der Kommunikation der Pegida-Bewegung, in der laut den Forschern
zunehmend auch Antisemitismus eine Rolle spielt.
„Die
Zustimmung zu offenen antisemitischen Vorurteilen ist im vergangenen
Jahr nach den Sommerprotesten gegen Israel erneut angestiegen. In Paris
wurden im Januar Jüdinnen und Juden getötet. Wie können wir da noch
ruhig der Opfer gedenken?“, fragt Andreas Zick. Laut einer Umfrage des
IKG im Jahr 2014 stieg zum Beispiel die Zustimmung zu antisemitischen
Einstellungen zwischen Juni und September 2014. 23 Prozent – also fast
ein Viertel – der älteren Deutschen ab 60 Jahren, meint, „Juden haben zu
viel Einfluss in Deutschland“. Bei den Jüngeren bis 30 Jahren ist die
Zahl mit knapp zehn Prozent zwar deutlich geringer. „Sie bleibt aber
seit Jahren beinahe auf einem ähnlichen Stand. Wir scheinen uns damit
abgefunden zu haben“, erklärt Beate Küpper. Wie stark antisemitische
Vorurteile verbreitet seien, zeige sich auch an einer Frage, die sich
auf die Verfolgung und Ermordung von Juden in Nazi-Deutschland bezieht.
Die Mehrheit der 2014 in der Studie „Fragile Mitte“ Befragten äußerte
sich verärgert darüber, „dass den Deutschen auch heute noch die
Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“
„Gerade die
Anti-Gaza-Demonstrationen im vergangenen Sommer haben Antisemitismus
erneut auf eine erschreckende Weise aufbrechen lassen, und zwar durchaus
auch in jenen Teilen der Bevölkerung, die sich selbst als Mitte
versteht“, sagt Küpper.
„Der Reflex, die Geschichte der Schoah
loszuwerden, erschwert das Erinnern nach Auschwitz“, sagt Andreas
Zick. In Anbetracht der Hass-Taten gegen Jüdinnen und Juden und ihre
Einrichtungen in Europa, wäre eher „ein unruhiges Erinnern“ angemessen.
„Der Antisemitismus bedroht das Leben von Jüdinnen und Juden und die
Demokratie in Deutschland und Europa“, sagt Zick.
Antisemitische
Einstellungen treten laut Beate Küpper auch in der Pegida-Bewegung in
Er-scheinung. „Pegida ist gewissermaßen ein Sammelbecken für
menschenfeindliche Einstellun-gen gegenüber einer ganzen Reihe von
sozialen Gruppen“, sagt Küpper. Zwar sehe man auf Pegida-Kundgebungen
Israelfahnen, aber viele Europakritiker und Sympathisanten
rechtspo-pulistischer Gruppen seien „mindestens klammheimlich
antisemitisch“, meint Küpper unter Bezug auf empirische Befunde.
Das
IKG untersucht seit zwölf Jahren die Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit in Deutschland. Nach Annahmen der Forscher ist
dabei immer auch an den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und
Islamfeindlichkeit sowie anderen Vorurteilen zu denken. Insofern ergebe
es Sinn, sich Pegida genauer anzusehen, erklärt Zick.
Hintergründe
zum Internet-Auftritt von Aktivisten und Sympathisanten von Pegida
stellte David Schlangen vor, Computerlinguist an der Universität
Bielefeld. Der Forscher hat die öf-fentliche Facebook-Kommunikation der
Pegida-Bewegung untersucht. Seinen Analysen zufolge kommt knapp vier
Fünftel der Kommentare auf der Pegida-Facebook-Seite von Konten, bei
denen der dazu eingetragene Name als männlich klassifiziert werden kann.
Auf der Facebook-Seite von Pegida wird auch kommentiert von
Facebook-Benutzern, die auch auf der Seite der NPD aktiv sind: „Etwa 3,5
Prozent der Kommentierer auf der Pegida-Seite melden sich auch auf der
Facebook-Seite der NPD zu Wort. Von ihnen stammen etwa vier Prozent der
Kommentare auf der Pegida-Seite“, sagt Schlangen.
Weitere Informationen im Internet:
Website des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung:
www.uni-bielefeld.de/ikg
Zusatzinformation zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Deutschland:
Zustimmung zu einzelnen Aussagen zur Erfassung von Antisemitismus in Prozent im September 2014
(Stichprobe: über 500 Befragte aus der deutschen Bevölkerung;
4-stufige Antwortskala, hier addiert: „ich stimme eher zu“ und „ich stimme voll und ganz zu“)
Klassischer Antisemitismus | |
Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss. | 15% |
Durch ihr Verhalten sind Juden an ihrer Verfolgung mitschuldig. | 18% |
Sekundärer Antisemitismus/ Schlussstrich-Mentalität | |
Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden. | 55% |
Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören. | 49% |
Israelbezogener Antisemitismus | |
Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer. | 20% |
Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat. | 28% |
NS-vergleichende Israelkritik | |
Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. | 40% |
Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im
Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit
den Juden gemacht haben. | 27% |
Quelle:
Zusatzerhebung zur Studie „Fragile Mitte – Feindselige Zustände“,
durchgeführt von Andreas Zick und Anna Klein im Auftrag der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 2014, auf Grundlage von Tabelle 4.2.1.