Soziologie
Trauer um Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Prof. Franz-Xaver Kaufmann
Wir trauern um Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franz-Xaver Kaufmann, der am 7. Januar 2024 im Alter von 91 Jahren in Bonn verstorben ist. In Zürich in einer Anwaltsfamilie aufgewachsen, kam Kaufmann 1963 nach Deutschland, zunächst zur Sozialforschungsstelle Dortmund der Universität Münster, an der damals auch Niklas Luhmann arbeitete. Kaufmann forschte dort im Rahmen eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu sozialer Sicherung, das von Helmut Schelsky geleitet wurde, dem geistigen Vater der Universität Bielefeld. 1968 wurde Kaufmann als einer der ersten Professoren der Universität Bielefeld, noch vor ihrer eigentlichen Gründung, zum Professor für Soziologie und Sozialpolitik berufen und blieb bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1997. Er war eine herausragende Persönlichkeit, die in der Fakultät und der Universität, in der deutschen und internationalen Wissenschaft und in der Öffentlichkeit prägend aktiv war und vielfach mit Preisen und Ehrendoktoraten ausgezeichnet wurde. Er war Mitbegründer der Fakultät für Soziologie im Jahre 1969 und hat das Reformkonzept einer „aktiven Professionalisierung“ in der damals noch sehr akademisch orientierten soziologischen Ausbildung wesentlich geprägt. 1981 gründete er im Auftrag der Landesregierung das Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS), 1981/82 war er geschäftsführender Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und leitete dort zugleich eine internationale Forschergruppe, der spätere Nobelpreisträger angehörten, und 1994 trug er zur Gründung der neuen Fakultät für Gesundheitswissenschaft bei.
Sein intellektueller Horizont war immens. Nur sehr wenige WissenschaftlerInnen schaffen es, in drei großen und eigenständigen Forschungsgebieten der Soziologie zu den anerkannten, bis heute oft zitierten Autoritäten zu gehören. Bei Kaufmann war dies die Sozialpolitik- und Wohlfahrtsstaatsforschung, die Familienforschung und die Religions- und Kirchensoziologie. Das diese Bereiche überspannende Thema war die Frage nach den Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenhalts in der individualisierten Moderne. Hinzu kamen maßgebliche Arbeiten zur Bevölkerungssoziologie, zur Verwaltungswissenschaft, zur Anwendungsforschung und anderen Gebieten. Interdisziplinarität war für seine Arbeit konstitutiv, und auch seine akademische Karriere berührte mehrere Disziplinen.
Kaufmann hat die moderne soziologische Sozialpolitikforschung in Deutschland seit den siebziger Jahren mitbegründet, greifbar in der Gründung der Sektion Sozialpolitik in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahr 1978. Zuvor war Sozialpolitik primär Gegenstand von Wirtschafts- und Rechtswissenschaft gewesen. Er brach auch den unreflektierten gemeinsamen Horizont von politikberatender Sozialwissenschaft und politischen Entscheidungsträgern auf, indem er das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis selbst zum Forschungsgegenstand machte. Schließlich begründete er einen zuletzt auch international anerkannten eigenen theoretischen Zugang zur Wohlfahrtsstaatlichkeit. Gegenüber den bis heute dominanten politökonomischen Ansätzen betonte er die normativen Ordnungen, die dem Wohlfahrtsstaat zugrunde liegen und jedem nationalen Wohlfahrtsstaat seinen „Eigensinn“ geben.
Neben seiner Forschungstätigkeit war Kaufmann auch ein öffentlicher Intellektueller, der in Beiräten und Kommissionen vielfach aktiv war. Insbesondere in der katholischen Kirche war er ein anerkannter und wirkmächtiger Berater, war vernetzt mit fast allen reformorientierten katholischen Theologen und beriet etwa die Deutsche Bischofskonferenz. Der Papst schickte zu seinem 65. Geburtstag Grüße. Im Kontext des Missbrauchsskandals kritisierte Kaufmann die „moralische Lethargie“ des Vatikans.
Die Universität Bielefeld hat eines ihrer bedeutendsten Mitglieder verloren. Wir verneigen uns vor einem überragenden Intellektuellen mit nie erschöpfendem Engagement und Energie, der zugleich seinen KollegInnen, StudentInnen und MitarbeiterInnen immer zugewandt und unterstützend begegnete. Franz-Xaver Kaufmann lebt fort nicht nur in der Erinnerung vieler Menschen, sondern auch in grundlegenden und innovativen Einsichten, Konzepten und Theorien, die er der Wissenschaft geschenkt hat, und in den Anstößen, die er der sozialpolitischen, familienpolitischen und kirchlichen Praxis gegeben hat. Elisabeth von Thadden bezeichnete Kaufmann einmal als ein „Frühwarnsystem“. Jahrzehnte vor einer breiteren öffentlichen Thematisierung identifizierte und analysierte er gesellschaftliche Probleme, die uns noch heute auf den Nägeln brennen, so die Problematik einer alternden Bevölkerung, die Folgen eines Bevölkerungsrückgangs und die gerade in Deutschland dringliche Frage, ob zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit mehr in „Humanvermögen“ investiert werden soll – durch Bildung, Familienpolitik und verbesserte Sozialisationsbedingungen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen – statt weiterer Steigerung der Redistribution monetärer Ressourcen. Schließlich war dieser Schweizer in Deutschland ein Weltbürger, der schon sehr früh nach den Bedingungen globaler normativer Ordnungen fragte.
Wir werden ihn vermissen. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen, die ihm nahestanden.
Prof. Dr. Lutz Leisering für die Fakultät für Soziologie