© Universität Bielefeld
Soziologie
Veröffentlicht am
29. Januar 2024
Kategorie:
Soziologie
Entzauberer des Staates – Ein Nachruf auf Helmut Willke
Die Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld trauert um Prof. Dr. Helmut Willke, der am 15. Januar 2024 im Alter von 78 Jahren in Köln verstorben ist. Helmut Willke war rund 25 Jahre, zunächst als Professor für Planungs- und Entscheidungstheorie, später als Professor für Staatstheorie und Global Governance, an der Fakultät für Soziologie tätig.
Helmut Willkes wissenschaftliches Werk steht vor allem für die Entfaltung einer leistungsfähigen Theorie gesellschaftlicher Steuerung. Auf der Grundlage Niklas Luhmanns Systemtheorie ging es ihm darum, die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Ordnung zu erfassen und ein konzeptionelles Instrumentarium zu entwickeln, das den komplexen Leistungs- und Problemdynamiken einer funktional differenzierten Gesellschaft gerecht wird. Seine Habilitationsschrift, die im Jahre 1983 mit dem Titel „Entzauberung des Staates: Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie“ veröffentlicht wurde, bildete in dieser Hinsicht einen ersten großen Schritt, indem sie die Grenzen staatlicher Steuerungsfähigkeit aufzeigte. Mit seiner systemtheoretischen Ausrichtung trug Helmut Willke zu einer Neubelebung der deutschen und internationalen Staatsdiskussion bei. Er argumentierte, dass in einer polyzentrischen Gesellschaft von einer hierarchischen Überordnung des Staates keine Rede mehr sein kann. Damit wandte er sich provokant gegen die, wie er schrieb, „Selbstillusionierung einer ganzen Profession von Staats- und Gesellschaftswissenschaftlern“. Seine zweite größere Publikation mit dem Titel „Ironie des Staates: Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft“ rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie Steuerung in einer Gesellschaft ohne Spitze und Zentrum denkbar ist. Hierzu brachte Helmut Willke das Konzept einer dezentralen Kontextsteuerung ins Spiel, bei der es im Kern um die kontextuelle Flankierung der selbstreferentiellen Selbststeuerung gesellschaftlicher Funktionssysteme geht. Dem Staat sollte die Aufgabe zukommen, Mechanismen der Reflexion und Selbstbindung zu initiieren und supervisorisch zu begleiten. Daß die „Ironie des Staates“ eine große Aufmerksamkeit innerhalb der Soziologie erfuhr, zeigt nicht zuletzt die ausführliche Rezeption durch Jürgen Habermas. Die diskurstheoretischen Erörterungen, die Jürgen Habermas in seinem Buch „Faktizität und Geltung“ im Jahre 1992 präsentierte, befassten sich intensiv mit dem von Helmut Willke entwickelten Konzept eines Supervisionsstaates.
Im Jahre 1994 erhielt Helmut Willke – zusammen mit Adrienne Windhoff-Héritier – den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er war damit der erste Soziologe, der den 1986 eingerichteten Preis erhielt - was auch deshalb bemerkenswert ist, da die Soziologie bis heute hier wenig Anerkennung erfahren hat. Es spricht viel dafür, dass Helmut Willkes interdisziplinäre Ausrichtung ein wichtiges Kriterium war. So stellten seine Arbeiten fruchtbare Verbindungen zu anderen Disziplinen wie insbesondere der Rechtswissenschaft, der Politikwissenschaft und den Wirtschaftswissenschaften her. Für Helmut Willke diente der Leibniz-Preis nicht zuletzt als Startpunkt für eine Reihe von Forschungsprojekten, die Nachwuchswissenschaftler:innen einen höchst lernförderlichen Entwicklungskontext boten. Helmut Willke besaß die Fähigkeit, Systemtheorie auf konkrete und praktische Fragestellungen auszurichten und seinen Studierenden und Doktorand:innen das Verstehen und die Nutzung entsprechender Konzepte zu erleichtern. Seine dreibändige Einführung in die Systemtheorie bietet bis heute einen der besten Einstiege in die System- und Steuerungstheorie. Helmut Willkes Lehrtätigkeit kennzeichnete sich durch eine Freude am Dialog. Für ihn ging es nicht um die Vermittlung von Wissen, sondern, im Sinne gelebter Theorie, um die Stimulierung der Aneignungsprozesse aufseiten der Studierenden.
Unter anderem beeinflusst durch Forschungsprojekte zum globalen Finanzsystem und zu regulatorischen Innovationen sowie durch seine Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen wandte sich Helmut Willke zu Beginn der 2000er Jahre dem Themenfeld Global Governance zu. Globalisierung und fortschreitende gesellschaftliche Wissensbasierung betrachtete er als Megatrends, die entsprechend intelligente globale Governance-Arrangements erfordern. Seine Publikationen zu den Themen Smart Governance, Wissensgesellschaft, Wissensmanagement und Wissensarbeit fanden eine Leserschaft weit über die Soziologie hinaus. Helmut Willkes jüngstes Buch zur „Klimakrise und Gesellschaftstheorie“, das im vergangenen Jahr erschien, spitzt das Thema Global Governance auf die Herausforderungen und Chancen der Umweltpolitik zu und bietet reichhaltiges Material für eine intensive konzeptionelle Debatte.
Helmut Willke verließ die Fakultät für Soziologie im Jahre 2008 und war danach an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen zunächst in Forschung und Lehre, später als Vizepräsident für Forschung tätig. Betrachtet man sein Werk, so könnte man in Helmut Willke einen getriebenen Wissenschaftler sehen. Damit verkennt man allerdings seine, im Simmelschen Sinne, quantitative und qualitative Individualität und damit auch die Bedeutung, die andere Bereiche des Lebens – Familie, Sport, Musik – für ihn hatten. Betonte er aus soziologischer Sicht stets die Realität systemischer Dynamiken, in denen individuelle Motive und Interessen gegenüber den Reproduktionsbedingungen sozialer Systeme nachrangig und Personen austauschbar sind, so lässt sich sagen, dass uns mit Helmut Willke eine Persönlichkeit verlassen hat, die einen Unterschied machte.
Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen, die ihm nahestanden.
PD Dr. Torsten Strulik für die Fakultät für Soziologie