Rechtswissenschaft
Zum 90. Geburtstag von Professor Dr. Gerhard Otte
Rechtswissenschaft zwischen Prinzipientreue und Verantwortung für die Praxis
An der Universität Bielefeld war er mehr als nur Lehrender – Professor Dr. Gerhard Otte hat mit seinem Wirken die Fakultät für Rechtswissenschaft über viele Jahre mitgestaltet. Seit mehr als fünf Jahrzehnten ist er eng mit der Fakultät für Rechtswissenschaft verbunden – als Lehrer, Forscher, Gestalter und nicht zuletzt als Brückenbauer zwischen juristischer Theorie und Praxis. Nun wurde der emeritierte Professor 90 Jahre alt – Anlass genug, auf eine prägende Laufbahn zurückzublicken, die weit über die Fakultät hinaus Spuren hinterlassen hat.
Otte kam in einer Zeit des Aufbruchs nach Bielefeld – das Sommersemester 1970 war erst das zweite im Bestehen der Fakultät. Die Berufung zum Professor nahm er an, ohne seine künftigen Kolleginnen und Kollegen oder die noch junge Universität wirklich kennengelernt zu haben. Doch schnell entwickelte sich eine enge Bindung. In den folgenden Jahrzehnten prägte er die Fakultät maßgeblich – als Hochschullehrer, als Dekan und als Reformer der juristischen Ausbildung. Angebote, an andere Universitäten zu wechseln, lehnte Otte in späteren Jahren mehrfach ab – aus Überzeugung: „Ich hatte das Gefühl, dass ich hier wirklich etwas mitgestalten kann – in Forschung, Lehre und Ausbildung.“
Theorie und Praxis müssen miteinander verbunden werden
Was Gerhard Ottes wissenschaftliches Werk besonders kennzeichnet, sind zentrale Überzeugungen. Zum einen war für ihn stets wichtig: Die Methodenlehre darf nicht in abstrakter Theoriebildung verharren, sondern muss durch Praxisbezug lebendig bleiben. So war es für ihn selbstverständlich, auch selbst Praxiserfahrung zu sammeln – als Richter am Oberlandesgericht Hamm und als Leiter zivilrechtlicher Arbeitsgemeinschaften zu vermitteln. Die Lehrveranstaltungen sollten ebenso Rechtstheorie mit Fallanalysen und praxisnahen Prüfungssituationen verknüpfen.
Der zweite Schwerpunkt seines Wirkens ist ethischer Natur: Das Recht dürfe niemals Selbstzweck sein. Es müsse den Menschen dienen, ihre Freiheit sichern – aber dabei stets Verantwortung mitdenken. „Freiheit ohne Verantwortung – das kann nicht gutgehen“, formuliert er es schlicht.
Die einstufige Jurist*innenausbildung (1973 - 1985)
1971 eröffnete eine Novellierung des Deutschen Richtergesetzes juristischen Fakultäten die Möglichkeit, eine neue Form der Jurist*innenausbildung zu erproben: Die herkömmliche Zweiteilung der Ausbildung in Studium und Referendariat, sollte durch eine Verzahnung theoretischer und praktischer Ausbildungsabschnitte abgelöst werden. Gerhard Otte gehörte zu den ersten Lehrenden, die dieses Modell mittrugen – und mit Leben füllten.
Es verkürzte die Ausbildungszeit deutlich – um bis zu zwei Jahre – und kam ohne private Repetitorien aus. Die Ausbildung endete mit der Abschlussprüfung vor einer aus zwei Praktikern und zwei Bielefelder Professoren bestehenden Kommission. Die Studierenden wussten daher, das geprüft wird, was gelehrt worden war. Es bestand ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, das es in der herkömmlichen Ausbildung längst nicht mehr gibt und das such auch am Interesse der Studierenden zeigte, an Seminaren teilzunehmen.
Trotz dieser positiven Erfahrung beendete der Gesetzgeber 1985 die Experimentierphase. Ausschlaggebend war wohl die Einsicht, fass die Verallgemeinerung des Einstufenmodells ohne einen erheblichen Stellen Zuwachs in der Justiz und den juristischen Fakultäten nicht möglich gewesen wäre. Die Zahl der Absolventen lag in Bielefeld jährlich im untersten dreistelligen Bereich. Mehr ließ die stärkere Einbindung der Richter in die Ausbildung der „Rechtspraktikanten“, die schon nach einem Studium von nur fünf Semestern in die Arbeitsweise von Gerichten und Behörden eingeführt werden sollten, und die stärkere Beanspruchung der Professoren durch Vorbereitung und Durchführung der Prüfungen nicht zu. Verbesserung der Ausbildung gibt es eben nicht umsonst.
Fakultätsleitung
1975 übernahm Professor Otte das Amt des Dekans der Fakultät. Es waren Jahre des Wachstums, in denen Ideen wie die Reformausbildung, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Methodenbewusstsein in der Rechtswissenschaft verstärkt wurden. Die finanziellen Rahmenbedingungen waren günstig, was sich besonders im Ausbau der Fakultätsbibliothek bemerkbar machte.
Forschung und Lehre
Schwerpunkte der wissenschaftlichen Arbeit Ottes waren und blieben bis heute zum einen die kritische Auseinandersetzung mit der Interpretation alter und neuer zivilrechtlicher Vorschriften durch die Rechtsprechung und die "herrschende Meinung" und zum anderen die Erklärung, warum Rechtsanwendung nie gänzlich "more geometrico" erfolgen und daher Automaten überlassen werden kann, sondern weiterhin auf Entscheidungen von Menschen angewiesen bleibt.
Vorlesungen hielt Otte über fast alle Teile des Bürgerlichen Rechts. Nach seiner Emeritierung übernahm er wiederholt die von ihm konzipierte Veranstaltung "Erbrechtspraxis" in der mit einer universitären Prüfung abzuschließenden Schwerpunktbereichsausbildung. Die Thematik seiner Seminare war breit gestreut: Mit Themen wie "Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der Literatur", "Prozess gegen Jesus", "juristische Logik", "ZGB der DDR" oder "Bewältigung des NS-Unrechts im Zivilrecht" erreichte er viele Studierende, die sich für mehr als nur den üblichen Prüfungsstoff interessierten.
Aktiv – noch im 90. Lebensjahr
Den offiziellen Ruhestand hat Professor Otte nie wirklich angetreten. Noch heute ist er als Zweitgutachter in Prüfungsverfahren eingebunden und hält einen Vortrag, wenn die Zeit es zulässt – zuletzt über die verfassungsrechtliche Bedeutung des Pflichtteilsrechts. Seine Mitwirkung als Redaktor und Mitautor des Erbrechts im „Staudinger“ (dem ältesten und größten BGB-Kommentar) bleibt bis heute fester Bestandteil seines akademischen Wirkens.
"Ich weiß, dass ich etwas kann, und weshalb soll ich das nicht wahrnehmen? Ich habe den richtigen Beruf gewählt. Ob es heute noch so schön ist, wenn man Universitätsprofessor wird, weiß ich nicht. Ich glaube, ich habe die beste Zeit erlebt." – Prof. Dr. G. Otte
Stationen in Bielefeld
- 1970 – Sommersemester Lehrvertretung an der Universität Bielefeld
- 31.08.1970 – Berufung auf den Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Juristische Methodenlehre
- 1973-1995 Richter am OLG Hamm
- 1975–1976 – Dekan der Fakultät für Rechtswissenschaft • 1978-2003 stellv. Vorsitzender des JPA Hamm
- 1995-2000 Vorsitzender der Juristischen Gesellschaft OWL
- Ende Sommersemester 2000 Emeritierung
Besuch von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im November 1993. Auf dem Foto: Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (2.v.l.), Prof. Dr. Gerhard Otte (3.v.l.), Rektor Prof. Dr. Helmut Skowronek (4.v.l.) [Schnarrenberger hat übrigens in Bielefeld studiert]
Foto: Norma Langohr/Universität Bielefeld