Rechtswissenschaft
75 Jahre Grundgesetz - Ein Meilenstein für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Am 23. Mai 1949 wurde das, vom Parlamentarischen Rat beschlossene, Grundgesetz verkündet. Dieses Dokument bestimmt die Grundlagen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und markierte einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Zum 75. Jubiläum gibt die emeritierte Bielefelder Professorin Gertrude Lübbe-Wolff, ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, im Interview eine fachliche Einschätzung zur Bedeutung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik, aber auch zu zukünftigen Aufgaben und wie sich eine wandelnde Gesellschaft immer wieder als Herausforderung für das Grundgesetz herausstellt.
Die Rechtswissenschaftlerin Gertrude Lübbe-Wolff war bis zu ihrer Emeritierung 2018 Dozentin für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld und von 2002 bis 2014 Mitglied des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts.
Welche Bedeutung hat das Grundgesetz Ihrer Meinung nach für die heutige deutsche Gesellschaft und für die Rechtsprechung?
Das Grundgesetz ist die Grundordnung unseres Zusammenlebens, vor allem die Grundordnung für das gesamte Rechtssystem, von dem alle unsere Lebensbedingungen entscheidend abhängen – die Gestalt und Funktionsfähigkeit unserer Demokratie, die Reichweite unserer Freiheiten, unsere Gleichberechtigung, unser Schutz vor Diskriminierung, die Erzeugung von Wohlstand durch Ermöglichung von Kooperation in gesicherten rechtlichen Formen und durch den Schutz von Eigentums- und Freiheitsrechten, aber auch die Begrenzungen solcher Rechte zum Schutz von Umwelt, sozialen Belangen und so fort.
Nicht zuletzt gewährleistet das Grundgesetz die Unabhängigkeit der Gerichte. Ohne die stünde alles Recht nur auf dem Papier. Für die Gerichte ist all das – das Grundgesetz und die Gesetze und sonstigen Regeln, die ihm gemäß zustande gekommen sind – die Grundlage ihrer Rechtsprechung.
Seit der Verabschiedung des Grundgesetzes vor 75 Jahren hat sich die deutsche Rechtsprechung immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert gesehen. Wie würden Sie die wichtigsten Meilensteine oder Entwicklungen im Bereich des öffentlichen Rechts seitdem beschreiben?
In der Frühzeit der Bundesrepublik ging es zunächst einmal darum, den Staat, den das Grundgesetz konstituierte, überhaupt aufzubauen und zu stabilisieren, auch das Land wirtschaftlich wieder aufzubauen, alle möglichen Kriegsfolgen zu bewältigen – unter anderem den Zustrom Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen –, die volle staatliche Souveränität wiederzugewinnen, sich wieder in die Staatengemeinschaft einzugliedern. Und dann war da die Daueraufgabe des Umgangs mit der deutschen Teilung. Die war ja mit dem Grundgesetz fürs erste besiegelt, aber das Grundgesetz enthielt auch den Auftrag, auf die Wiedervereinigung hinzuwirken.
Als die dann endlich möglich wurde, war das eine ungeheure Herausforderung, auch für die Rechtsprechung. Die Geschichte der Europäischen Integration und der sonstigen Internationalisierung ist ebenfalls immer wieder mit Herausforderungen für die Rechtsprechung verbunden gewesen. Und dann gab es die bekannten politischen Entwicklungen, Krisen und Herausforderungen wie den Terrorismus der 70er Jahre, neue Techniken, Finanzkrisen, Kriege und neue Flüchtlingsströme, kürzlich die Corona-Pandemie, und große Umweltprobleme, schon in der 70er- und 80er-Jahren, und jetzt, nachdem wir viel zu spät reagiert haben, besonders drängend: das Problem des Klimawandels.
Mit vielen der zurückliegenden Herausforderungen sind wir einigermaßen gut fertiggeworden. Aber die Häufung von Krisen in jüngerer Zeit ist schon besorgniserregend, und wenn es uns nicht gelingt, den Polarisierungstendenzen entgegenzuwirken, die sich daraus ergeben, und die notwendigen Veränderungen sozialverträglich zu gestalten, ist es nicht wahrscheinlich, dass auch diesmal alles passabel ausgeht.
Das komplette Interview finden Sie hier: Ein Meilenstein für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – Aktuell Uni Bielefeld (uni-bielefeld.de)