Pressemitteilungen
Wenn Populismus krank macht (Nr. 18/2020)
Bielefelder Forschende weisen in „Science“ auf bedrohte Kolleg*innen hin
Der Weltgesundheitstag am 7. April soll auf die Bedeutung der Gesundheitsversorgung und auf Krankheitsprävention aufmerksam machen. Doch diese Ziele sind in vielen Ländern gefährdet, stellen Wissenschaftler*innen der Universität Bielefeld in einem Beitrag im Fachmagazin „Science“ fest. Die Corona-Krise zeigt nach Ansicht des Forschungsteams, wie wichtig faktenbasierte Forschung ist und wie gefährlich es für die öffentliche Gesundheit ist, wenn Hinweise von Forschenden und Mediziner*innen auf Krankheiten politisch unterdrückt werden.
Forschende weltweit in ihren Grundrechten eingeschränkt
Das Netzwerk „Scholars at Risk“ hat von September 2018 bis August 2019 insgesamt 324 Angriffe auf Forschende gezählt. „In Zeiten von populistischen Bewegungen und ‚alternativen Fakten’ können wir beobachten, dass wissenschaftliche Befunde immer häufiger angezweifelt werden. Forschende werden angegriffen, wenn sie sich für evidenzbasierte Erkenntnisse einsetzen und diese verbreiten“, sagt Professor Dr. Oliver Razum, Leiter der Arbeitsgruppe „Epidemiologie & International Public Health“ und Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Er und seine Mitarbeiter*innen forschen dazu, wie Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung verteilt sind und wie Gesundheit gefördert werden kann. Mit ihrem Kommentar im Magazin „Science“ wollen die Wissenschaftler*innen ein Bewusstsein schaffen für die Probleme, vor denen die Wissenschaftskommunikation im Bereich „Public Health“ (Gesundheitswissenschaften) steht.
Als weiteres aktuelles Beispiel führen sie die Verurteilung von Dr. Bülent Şık an – ein Lebensmittelingenieur, der seine Forschungsergebnisse zur Verunreinigung von Lebensmitteln in der Türkei publizierte. Im September 2019 wurde er zu 15 Monaten Haft verurteilt. „Nicht-evidenzbasierte politische Entscheidungen haben weitreichende negative Auswirkungen auf die Bevölkerungsgesundheit“, sagt Lisa Wandschneider, Mitarbeiterin von Razum und Erstautorin des Kommentars. „Daher müssen insbesondere Gesundheitswissenschaftler*innen aktiv dagegen Einspruch erheben, ohne dass ihre Freiheit und Autonomie eingeschränkt wird.“
Wenn populistische Politik die Gesundheit beeinflusst
Populistische Haltungen dringen laut den Forschenden mittlerweile in alle Demokratien ein. Deren Forderungen skizzieren häufig ein vermeintlich homogenes „Wir“ im Kontrast zu den „Anderen“ und basieren damit auf nationalistischen Ideologien, nicht aber auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. „Populistische Ideologien widersprechen unserem ethischen Grundverständnis“, sagt Razum. „Gesundheit ist ein Menschenrecht, das nicht an bestimmte Merkmale einer Personengruppe gebunden ist.“
Negative Auswirkungen durch Populismus auf die Gesundheit beobachten die Bielefelder Forschenden weltweit, unter anderem bei bestimmten Bevölkerungsgruppen in den USA, Deutschland und anderen europäischen Ländern. So komme es häufig vor, dass Migrant*innen es schwerer haben, Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen und dass Frauen der Zugang zu Verhütung und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen eingeschränkt wird. Aber auch die gesamte Bevölkerung könne unter populistischer Politik leiden: „Wenn ganze Gesundheitssysteme durch Kriege wie in Syrien zusammenbrechen oder der menschenverursachte Klimawandel und dessen Folgen geleugnet werden wie in den USA, betrifft das die Gesundheit von uns allen“, sagt Razum.
Einsatz für akademische Freiheit
„Wir halten es für äußerst wichtig, dass Forschung unabhängig ist und bleibt. Mit unserer Antwort auf das Science-Editorial möchten wir dieser Forderung in unserer Disziplin Public Health möglichst viel Gehör verschaffen“, sagt Razum. Der Bielefelder Kommentar bekam positive Reaktionen, zum Beispiel von Gesundheitswissenschaftler*innen aus Colorado, USA. Außerdem erfuhren die Bielefelder Forschenden von einem Offenen Brief, der Dr. Bülent Şık unterstützt. „Solange Regierungen Forschende nicht schützen, müssen wir uns als Gemeinschaft für akademische Freiheit einsetzen“, sagt die Co-Autorin Dr. Yudit Namer.
Insgesamt haben Razum, Wandschneider und Namer Hoffnung: In der Türkei bilden sich verschiedene Solidaritätsinitiativen. Akademiker*innen, die entlassen wurden, organisieren Vorlesungen, Seminare und Workshops in nicht-universitären öffentlichen Räumen. „Das zeigt, wie die akademische Freiheit auf anderen Wegen existieren und dass strukturelle Attacken Wissenschaft nicht ersticken kann“, sagt Namer. „Wir hoffen, dass Wissenschaft kein Privileg, sondern allen zugänglich ist.”
Weitere Informationen:
• Der Kommentar in der „Science“
• Das Editorial, auf den sich der Kommentar bezieht
• Bericht von Scholars at Risk
Kontakt:
Prof. Dr. Oliver Razum, Universität Bielefeld
Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Telefon: 0521 106-3837
E-Mail: oliver.razum@uni-bielefeld.de