© Universität Bielefeld

Pressemitteilungen

Smarte Sensorik vermisst Herzen auf der ISS-Raumstation (Nr. 72/2022)

Veröffentlicht am 14. Juli 2022, 12:16 Uhr

Medizinische Fakultät OWL begleitet Weltraumstudie

Der 20. Juli ist internationaler Tag der Weltraumforschung. Forschende der Universität Bielefeld befassen sich aktuell mit der Frage, ob sich der Kreislauf von Astronaut*innen unaufdringlich überwachen lässt. Sie setzen ein Experiment auf der Internationalen Raumstation (ISS) um und erforschen eine Methode zur Messung der Herz-Kreislauf-Funktion: In ein T-Shirt eingenähte smarte Sensoren messen minimale Bewegungen des Brustkorbs, die durch den Herzschlag entstehen, und senden diese Information über ein Drahtlos-Netzwerk zur Erde. „Unser Experiment verläuft sehr erfolgreich“, sagt Professor Dr. med. Dr. Urs-Vito Albrecht von der Medizinischen Fakultät OWL der Universität Bielefeld. „Die Daten sind vielversprechend und wir sind sehr zufrieden.“ Für die Studie kooperiert die Universität Bielefeld mit der Technischen Universität Hamburg, dem Bremer Institut für Raumfahrtsysteme des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, der Firma Hohenstein Laboratories und dem Raumfahrtunternehmen DSI Aerospace Technologie.

Weltraumspaziergänge sind enorm gefährlich und sehr anstrengend. Nur ein Raumanzug trennt die Astronaut*innen vom lebensfeindlichen Weltall. Das stundenlange Arbeiten in den klobigen Anzügen ist kräftezehrend und belastet das Herz-Kreislauf-System enorm. „Ein Kollaps beim Außenbordeinsatz wäre fatal. Es ist daher sehr hilfreich, Herz und Kreislauf ständig im Blick zu haben“, sagt Professor Dr. med. Dr. Urs-Vito Albrecht von der Arbeitsgruppe Digitale Medizin in der Medizinischen Fakultät OWL. „Frühzeitig lässt sich so eine Überlastung erkennen und es kann entsprechend gegengesteuert werden“. 

Albrecht ist am BEAT-Experiment beteiligt, an dem die Raumfahrenden Dr. Matthias Maurer und Samantha Cristoforetti mitwirken. Gemeinsam mit Kolleg*innen erforscht er die Ballistokardiografie als Methode, wie eine unaufdringliche Langzeitmessung der Herz-Kreislauf-Funktion bei geringem Ressourceneinsatz gelingen kann. Professor Dr. med. Sebastian Kuhn, Leiter der Arbeitsgruppe Digitale Medizin sagt: „Die Erkenntnisse sind auch für die zukünftige Gesundheitsversorgung auf der Erde bedeutsam“.

Im All gemessen, auf der Erde ausgewertet
BEAT steht für „Ballistocardiography for Extraterrestrial Applications and long-Term missions“ (Ballistokardiografie für extraterrestrische Anwendungen und Langzeitmissionen). Im Kern des Experiments werden mittels eines smarten T-Shirts kleinste herzkreislaufbedingte Beschleunigungen des Körpers der Astronaut*innen gemessen. Hieraus sollen Rückschlüsse auf die Funktionalität des Herzens getroffen werden. Die Ballistokardiografie-Methode erfährt durch die Sensorprozessortechnik eine Renaissance, nachdem sie fast in Vergessenheit geriet. 

„Auf der ISS ist die Schwerkraft so gering, dass sie kaum Einfluss auf die Beschleunigungsmessungen hat“, erklärt Urs-Vito Albrecht, der in der Arbeitsgruppe Digitale Medizin das Experiment leitet. „Das erleichtert es, zu untersuchen, ob die Ballistokardiografie methodisch für längere und räumlich von der Erde entferntere Ziele geeignet ist“. 

Das BEAT-Experiment ist ein Teil des Projekts „Wireless Compose 2“, das vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) Bremen geleitet wird. In dem Projekt wurden das smarte 
T-Shirt und die darin genutzte Sensorik und Technik zum Signaltransfer auf die Erde entwickelt –von einem Konsortium der Universität Bielefeld, der Technischen Universität Hamburg, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt Bremen und den Unternehmen Hohenstein Laboratories und DSI Aerospace Technologie.

Körperschwingungen lassen auf die Herzfunktion schließen
Die Ballistokardiografie macht sich zunutze, dass die Kraft des schlagenden Herzens und der Rückstoß des Blutflusses in die Gefäße zu charakteristischen Schwingungen führen, die an der Körperoberfläche gemessen werden können. Diese Vibrationsmuster stehen in einer Wechselbeziehung zur Herz-Kreislauf-Funktion. Die Methode wurde bereits 1877 beschrieben, aber erst die heutige smarte Technologie ermöglicht eine verbreitete Nutzung. Aktuell können mit der Ballistokardiografie insbesondere Herzfrequenz, Herzrhythmus und relativer Blutdrucks bestimmt werden. „Mit überlegtem Einsatz der Technologie und der richtigen Methodik steht zukünftig ein weiteres Instrument zu kontinuierlicher Herz-Kreislauf-Überwachung zur Verfügung,“ sagt Albrecht. 

Ballistokardiografie als ergänzende Diagnostik
Eine heute übliche Methoden ist die Echokardiografie (Herzultraschalluntersuchung). Sie wird eingesetzt, um die Herzfunktion zu beurteilen: Ärzt*innen halten für die Messung einen Ultraschallkopf an den Brustkorb oder bewegen eine Ultraschallsonde bis auf Herzhöhe in die Speiseröhre. Die Schallwellen werden vom Herzgewebe und den Herzkammern zurückgeworfen. Eine Software wertet die Daten aus und stellt sie auf dem Bildschirm des Echogeräts dar. „Hierdurch bekommen wir wertvolle Informationen über das Herz“, erklärt Albrecht. „Für kontinuierliche Messungen ist die Echokardiographie allerdings nicht gedacht. Für den Weltraumeinsatz ist sie auch eher ungeeignet, da keine parallelen Aktivitäten durchgeführt werden können, ganz zu schweigen von Außenbordeinsätzen.“ Die Ballistokardiografie kann theoretisch ähnliche Information wie die Echokardiografie liefern. Albrecht und seine Kolleg*innen erforschen, ob und welchen Mehrwert die Methode bietet, um zukünftig eine kontinuierliche Herz-Kreislauf-Diagnostik zu unterstützen. 

Über die Brustkorbbewegung Herzklappenereignisse bestimmen
„In unserem Experiment untersuchen wir auch, wie gut wir mit der Ballistokardiografie die Öffnungs- und Schlusszeiten der Herzklappen feststellen können.“ Um die Herzbewegung zu registrieren, hat Juniorprofessor Dr.-Ing. Ulf Kulau von der Technischen Universität Hamburg Sensoren für ein smartes T-Shirt entwickelt, das die durch den Herzschlag bedingte Brustkorbbewegung misst. In dem T-Shirt namens SmartTex sind zwei dieser Sensoren eingearbeitet. Das T-Shirt wurde von der Firma Hohenstein Laboratories entwickelt. Zieht eine Astronautin oder ein Astronaut es an, legen sich die Sensoren auf die Haut über der Halsschlagader und über der Herzspitze an.

Astronaut Matthias Maurer und Astronautin Samantha Cristoforetti nehmen an Studie teil  
Für das Experiment konnten der deutsche Astronaut Dr. Matthias Maurer und die italienische Astronautin Samantha Cristoforetti gewonnen werden. Das BEAT-Forschungsteam möchte klären, ob die Methode bei Männern wie auch Frauen gleichermaßen eingesetzt werden kann. Gemäß dem Studienplan tragen Maurer und Cristoforetti ihre speziellen T-Shirts auf der ISS jeweils bis zu sechs Mal im Abstand von zwei Wochen – Maurer während seines Aufenthalts zwischen November und Mai, Cristoforetti während ihres aktuellen Aufenthalts, zu dem sie im April aufgebrochen ist. 

Die Sensorik in den T-Shirts nimmt die Daten der Astronaut*innen auf, die dann über ein drahtloses Netzwerk zur Erde geschickt werden. Die detaillierte Auswertung erfolgt, wenn die letzten Daten im Herbst auf der Erde eingegangen sind. „Jetzt lässt sich bereits sagen, dass der Herzschlag und Herzfrequenz sehr gut zu bestimmen sind“, berichtet Urs-Vito Albrecht. „Veränderungen im zeitlichen Verlauf lassen sich bereits erkennen.“ Es wird zu klären sein, ob und wie diese Daten mit den Langzeitaufenthalten in der Schwerelosigkeit und den damit verbundenen körperlichen Veränderungen in Zusammenhang stehen. 

Gesundheitsassistenzsysteme für Astronaut*innen
Urs-Vito Albrecht sieht smarte Sensorik als einen potenziellen Baustein für die künftige Gesundheitsüberwachung der Astronaut*innen. Er hält es wie sein Hamburger Kollege Ulf Kulau für sinnvoll, alle Astronaut*innen mit Sensoren auszustatten, insbesondere im Hinblick auf die anstehende Artemis-Mission zum Mond, die noch in diesem Jahrzehnt die Einrichtung einer Mondstation vorsieht.  Beide sind sich einig, dass mit zunehmender Distanz zwischen Raumfahrenden und Bodencrew eine Kombination von smarten Sensoren und Künstlicher Intelligenz notwendig wird. „Solche Assistenzsysteme könnten die Astronaut*innen dann mit Diagnosen und Gesundheitsempfehlungen unterstützen“, meint Albrecht. Kulau ergänzt, dass „smarte und energieeffiziente Sensor-Systeme Schlüsseltechnologien darstellen – im Weltraum wie auf der Erde.“ 

Weitere Informationen: 
Kontakt:
Prof. Dr. med. Dr. PH Urs-Vito Albrecht, Universität Bielefeld 
Medizinische Fakultät OWL
Telefon 0521 106-86714

E-Mail: urs-vito.albrecht@uni-bielefeld.de

Das Bildmaterial zum Thema kann über die E-Mail medien@uni-bielefeld.de angefordert werden. 

Gesendet von JHeeren in Forschung & Wissenschaft
Kommentare:

Senden Sie einen Kommentar:
Kommentare sind ausgeschaltet.

Kalender

« April 2024
MoDiMiDoFrSaSo
1
2
3
6
7
10
11
12
13
14
15
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
     
       
Heute

Newsfeed