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Irrtum aufgeklärt: Antriebsgelenk der Stabheuschrecke entdeckt (Nr. 26/2016)
Forschende der Universität Bielefeld analysieren Bewegung des sechsbeinigen Insekts
Die Stabheuschrecke ist in der Biologie ein beliebtes Untersuchungsmodell, um Laufbewegungen bei Insekten zu verstehen. Ihr Vorteil: Körper und Nervensystem sind vergleichsweise einfach aufgebaut. In Lehrbüchern wurde über Jahrzehnte behauptet, dass die Kraft zur Stützung des Körpers und die Kraft zur Fortbewegung unabhängig voneinander von verschiedenen Gelenken geregelt werden. „Das ist nicht richtig“, sagt jetzt der Biologe Chris Dallmann. „Tatsächlich ist ein und dasselbe Gelenk für beide Aufgaben zuständig. Das können wir mit unseren neuen Analysen belegen“, sagt der Doktorand des Exzellenzclusters Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld. Die Forschungsergebnisse stellt Dallmann zusammen mit den Professoren Dr. Volker Dürr und Dr. Josef Schmitz im Fachmagazin „Proceedings of the Royal Society“ vor. Die New York Times präsentiert das Forschungsergebnis seit gestern (15.2.2016) in einem Videobeitrag.
Noch vor kurzem waren sich Biologen weltweit sicher, dass die Kraft für die Vorwärtsbewegung der Stabheuschrecke aus dem Gelenk kommt, um das sich das Bein rückwärts bewegt. „Der Grund für die falsche Annahme war, dass die Messmethoden zu ungenau waren“, berichtet Josef Schmitz. „Stabheuschrecken wiegen nur etwa ein Gramm. Wegen des geringen Gewichts ließ sich bisher nur sehr schlecht berechnen, welche Kraft die einzelnen Beinglieder ausüben.“
Die Forschungsgruppe Biologische Kybernetik hat ein neues Verfahren entwickelt, das mit dem Leichtgewicht der Stabheuschrecke zurechtkommt. Es misst zum einen sehr präzise die Kräfte, die das ganze Bein auf den Boden ausübt. Zum anderen misst es mit hoher zeitlicher Auflösung, wie sich das Bein im Raum bewegt. „Indem ich diese beiden Datenpakete kombiniere, kann ich berechnen, wie viel Kraft jedes einzelne Gelenk freisetzt“, erklärt Dallmann. So kann er zeigen, welches Gelenk die Bewegung antreibt und welche Gelenke die Antriebskraft lediglich umleiten.
Jedes der sechs Beine der Stabheuschrecke wird maßgeblich von drei Gelenken bewegt. Wie ein „L“ sind sie mit dem Körper des Tieres verbunden. Ein Hüftgelenk (Thorax-Coxa-Gelenk) verbindet das Bein mit dem Körper, und um dieses Gelenk bewegt sich das Bein rückwärts. Ein zweites Hüftgelenk (Coxa-Trochanter-Gelenk) verbindet die Hüfte mit dem Oberschenkel, um dieses Gelenk bewegt sich das Bein nach unten. Ein Kniegelenk (Femur-Tibia-Gelenk) verbindet schließlich den Oberschenkel mit dem Unterschenkel, um dieses Gelenk bewegt sich das Bein nach außen.
Um herauszubekommen, wie viel Kraft die einzelnen Beingelenke der Stabheuschrecke erzeugen, ließ Dallmann die Tiere auf einem Steg mit Trittsteinen laufen. Sensoren in den Trittsteinen erfassen den Druck und die Querkräfte, die von den Füßen der Stabheuschrecke ausgehen. Gleichzeitig zeichnete Dallmann den Gang des Insekts mit einem System zur Bewegungserfassung auf. Das Vicon-System registriert mit Infrarotkameras die Bewegung von 17 kleinen Reflektoren (Markern), die an dem Außenskelett der Stabheuschrecke kleben. „Als wir die Messung der Bewegung und der Bodenreaktionskräfte zusammengebracht haben, wurde klar, dass der Vortrieb gar nicht durch das Hüftgelenk erfolgt, um das sich das Bein nach hinten bewegt“, so Dallmann. „Vielmehr entsteht der Vortrieb automatisch dadurch, dass der Oberschenkel stark nach unten drückt, um den Körper zu stützen.“ Forscher dachten bislang, das Herunterdrücken des Schenkels diene alleine der Körperunterstützung.
Die neuen Erkenntnisse dürften nicht nur Änderungen in den Lehrbüchern mit sich bringen. Das Wissen soll auch mit der künstlichen Stabheuschrecke Hector erprobt werden. „Der Roboter ist ähnlich der Stabheuschrecke mit elastischen Antrieben ausgestattet“, sagt Chris Dallmann. „Wir wollen jetzt testen, welche Vorteile es hat, wenn ein Antrieb wie beim tierischen Vorbild sowohl die Körperhöhe als auch die Fortbewegung regelt.“
Chris Dallmann befasst sich in seiner Doktorarbeit mit der Frage, wie Stabheuschrecken ihr Gehen an die Umgebung anpassen. Er ist seit Ende 2013 Mitglied der CITEC-Graduiertenschule. Die Einrichtung ist 2008 gegründet worden und sorgt für die weiterführende wissenschaftliche Qualifikation in der Kognitiven Interaktionstechnologie an der Universität Bielefeld. Derzeit hat die Graduiertenschule rund 100 Mitglieder.
Originalartikel:
Chris Dallmann, Volker Dürr, Josef Schmitz: Joint torques in a freely walking insect reveal distinct functions of leg joints in propulsion and posture control. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 283 (1823). 20 January 2016.DOI: 10.1098/rspb.2015.1708, erschienen am 20. Januar 2016.
Weitere Informationen im Internet:
• Videobeitrag der New York Times: www.nytimes.com/2016/02/15/science/stick-insect-helps-scientists-study-how-animals-move.html
• Video zu Hector bei research_tv („Eine Roboter-Stabheuschrecke lernt laufen“): youtu.be/1DB6bd61i0o
• Roboter-Stabheuschrecke Hector macht ihre ersten Schritte (Pressemitteilung vom 15.12.2014): ekvv.uni-bielefeld.de/blog/uniaktuell/entry/roboter_stabheuschrecke_hector_macht_ihre
• Ein Roboter mit Bewusstsein (Pressemitteilung vom 20.12.2013): ekvv.uni-bielefeld.de/blog/pressemitteilungen/entry/ein_roboter_mit_bewusstsein_nr
• Ein Roboter soll sich selbst wahrnehmen (Pressemitteilung vom 25.03.2015): ekvv.uni-bielefeld.de/blog/pressemitteilungen/entry/ein_roboter_soll_sich_selbst
• Forschungsgruppe „Biologische Kybernetik“: www.uni-bielefeld.de/biologie/Kybernetik
Kontakt:
Chris Dallmann, Universität Bielefeld
Fakultät für Biologie
Telefon: 0521 106-5530
E-Mail: cdallmann@uni-bielefeld.de