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Geflüchtete und Zahnmedizin: Studie räumt Vorurteile aus (Nr. 7/2024)
Bielefelder Forschende beleuchten die Realität zahnärztlicher Behandlungen
Wie sieht die zahnmedizinische Versorgung von Geflüchteten im Detail aus? Wie häufig nehmen sie Leistungen in Anspruch? Und was lässt sich daraus ableiten? Mit diesen Fragen haben sich Gesundheitswissenschaftler*innen der Universität Bielefeld befasst. Im vergangenen Herbst wurde öffentlich über die zahnmedizinische Versorgung abgelehnter Asylbewerber*innen diskutiert und darüber, wie häufig sie eine solche Versorgung in Anspruch nehmen. Die vorliegende Studie legt nahe: Geflüchtete werden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich seltener zahnärztlich behandelt.
„In unserer Studie haben wir untersucht, wie häufig Asylbewerber*innen in Deutschland innerhalb eines Jahres zum Zahnarzt gehen“, sagt Professor Dr. med. Kayvan Bozorgmehr. Er leitet die Arbeitsgruppe Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Bozorgmehr ist Erstautor eines Forschungsartikels zu zahnärztlichen Behandlungen bei Geflüchteten, der morgen (17.01.2023) erscheint. Veröffentlicht wird der Beitrag mit Ko-Autorinnen des Universitätsklinikums Heidelberg, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Robert Koch-Instituts (RKI) im Journal of Health Monitoring des RKI.
Großer Unterschied zur Gesamtbevölkerung
Die analysierten Daten stammen aus der Querschnittstudie RESPOND aus dem Jahr 2018, die Kayvan Bozorgmehr ebenfalls geleitet hat. Dafür wurden per Zufallsstichprobe 863 geflüchtete Menschen in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften in Baden-Württemberg und Berlin unter anderem gefragt, inwiefern sie eine zahnmedizinische Versorgung in Anspruch nahmen. 38,2 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten zahnmedizinisch behandelt worden zu sein. „41,4 Prozent haben gesagt, dass sie in Deutschland noch nie beim Zahnarzt waren“, sagt Bozorgmehr.
Beide Zahlen sind allerdings nur begrenzt miteinander vergleichbar, da es sich um unterschiedliche Datengrundlagen handelt. Das zeigt auch ein grundsätzliches Problem: Daten zu zahnmedizinischen Leistungen bei geflüchteten Menschen werden zwar bei den einzelnen Behörden erfasst, aber nicht zusammengeführt. Bozorgmehr hält die erhobenen Daten und den Unterschied für plausibel. „Auch internationale Studien weisen insgesamt auf einen schlechten Zustand der Mundgesundheit und erschwerten Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung bei geflüchteten Menschen hin.“
Einschränkungen bei der Behandlung
Inwiefern können Geflüchtete in Deutschland überhaupt zu Zahnärzt*innen gehen und sich behandeln lassen? Das ist im Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Das sieht vor, dass Zahnbehandlungen nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn es unaufschiebbare medizinische Gründe dafür gibt. Weitere Leistungen dürfen im laufenden Asylverfahren, bei einem abgelehnten Verfahren oder einer Duldung in den ersten 18 Monaten des Aufenthalts in Deutschland nur auf Antrag bei der zuständigen Behörde und nach deren Ermessen gewährt werden.
Gefahr von Folgeerkrankungen
In der Summe ergibt sich ein höherer Bedarf gepaart mit einer fehlenden zahnmedizinischen Vorsorge, während die Versorgung auf schmerzhafte oder unaufschiebbare Zahnprobleme begrenzt ist. „Unbehandelte zahnmedizinische Beschwerden können nicht nur die Lebensqualität erheblich einschränken, sondern auch zu Folgeerkrankungen in anderen Organsystemen führen“, sagt Gottlieb. Hinzu kommt noch ein anderer Punkt: Die fehlende Vorsorge kann höhere Folgekosten für das Gesundheitssystem mit sich bringen. „Daher stellt sich schon die Frage, ob die im Gesetz verankerte Unaufschiebbarkeit das Ziel der Ausgabendeckelung tatsächlich erfüllt.“
Um solche und weitere Fragen aus der Gesundheitsversorgung besser beantworten zu können, bedarf es nach Einschätzung der Forschenden eine bessere Datengrundlage zur Versorgung geflüchteter Menschen. „Dadurch könnten der Bedarf und die Versorgung besser abgebildet werden“, sagt Gottlieb. Das könne nicht nur dazu beitragen, Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung aufzudecken, sondern auch zu einer faktenbasierten Diskussion in Bezug auf Migration und Gesundheit beitragen.
Die Studie reiht sich ein in aktuelle Studien auf dem neuen Gebiet der Unsicherheitsforschung, das am neuen Center for Uncertainty Studies (CeUS) der Universität Bielefeld vorangetrieben wird. Der Konfliktforscher Professor Dr. Andreas Zick, einer der Direktor*innen des CeUS, sagt: „Wenn Politiker*innen Geflüchteten ohne Sachgrundlage unterstellen, Sozialleistungen zu missbrauchen, wird ein tatsächliches oder subjektiv empfundenes Wissensdefizit von Bürger*innen ausgenutzt. Das verstärkt Unsicherheiten durch Scheinsicherheiten und dient vielleicht nur dazu, Wahlstimmen zu erreichen. Am Zentrum für Ungewissheitsforschung gehen wir solchen Narrativen der Unsicherheit nach und erforschen ihre gesellschaftlichen Effekte. Die können auch darin bestehen, neue Unsicherheiten zu produzieren.“
E-Mail: kayvan.bozorgmehr@uni-bielefeld.de
Das Bildmaterial ist hier abrufbar.