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Pressemitteilungen
Veröffentlicht am
27. Juli 2020
Kategorie:
Forschung & Wissenschaft
Den Mittelweg zwischen Infektionsrisiko und Rezession berechnen (Nr. 46/2020)
Bielefelder Ökonom*innen entwickeln Computermodell zu Corona-Maßnahmen
Wie wirken sich die Einschränkungen durch die Coronakrise auf die Wirtschaft aus? Welche Maßnahmen sind geeignet, um die Zahl der Infizierten und Toten durch Sars-CoV-2 möglichst niedrig zu halten? Und wie hängen beide Dynamiken miteinander zusammen? Das haben Wissenschaftler*innen der Universität Bielefeld erforscht und nun in einer Studie veröffentlicht. Dazu haben sie in einem Computermodell mit hoher Voraussagekraft simuliert, wie sich das Virus verbreitet und wie sich zugleich unterschiedliche Eindämmungsmaßnahmen auswirken – und zwar sowohl auf das Bruttoinlandsprodukt und die Arbeitslosenzahlen als auch auf die Zahl der Infizierten und der an Covid-19 Verstorbenen.
Professor Dr. Herbert Dawid von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften forscht seit Jahrzehnten an Computer-gestützten Modellen, mit denen er die dynamischen Auswirkungen untersucht, die ganz unterschiedliche Veränderungen und politische Maßnahmen auf die Wirtschaft haben – da war es für ihn nur logisch, auch ein Modell für die Corona-Krise auszuarbeiten. Damit füllt er zugleich eine Leerstelle: Es gibt viele Modelle, mit denen man die Auswirkungen unterschiedlicher Eindämmungsmaßnahmen auf die Wirtschaft simulieren kann – und Untersuchungen, die sich mit der Ausbreitung von Sars-CoV-2 befassen. „Es gibt aber kaum Studien, die beide Aspekte miteinander verbinden“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Dabei ist es wichtig, dies kombiniert zu betrachten: „Es ist nicht nur so, dass viele Eindämmungsmaßnahmen wirtschaftliche Folgen haben“, sagt Dawid. „Umgekehrt können auch wirtschaftliche Aktivitäten dazu beitragen, dass sich das Virus weiterverbreitet.“
Für die Modellierung der Ausbreitung des Virus stützten sich die Forscher*innen auf etablierte epidemiologische Modelle. Auf Seiten der Wirtschaft sind im Modell ein öffentlicher und drei private Sektoren sowie Haushalte mit einer unterschiedlichen Altersstruktur angelegt. Berücksichtigt wird zudem individuelles Verhalten. Als Verbreitungskanäle des Virus sind Arbeit, Einkaufen und private Treffen vorgesehen.
In ihrem Modell haben die Wissenschaftler*innen zunächst Maßnahmen simuliert, um die Verbreitung des Virus unter Kontrolle zu bekommen. Dabei stehen unterschiedliche Stellschrauben zur Verfügung, darunter auch solche, die zumindest im Modell keine Auswirkungen auf die Wirtschaftsaktivität haben. Dazu zählt zum Beispiel, dass mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Ziel der Simulation ist dabei immer, dass die Zahl der Infizierten nicht über einen Schwellwert steigt, bei dem die vorhandene Zahl an Intensivbetten nicht mehr ausreicht.
Das ließ sich in der Studie alleine mit solchen „weichen“ Maßnahmen allerdings kaum erreichen. Als notwendig zeigte sich hingegen ein recht harter Lockdown, der – ähnlich wie es in Deutschland geschehen ist – zum Beispiel mit der Schließung von Geschäften einhergeht. Dies hat natürlich entsprechende Auswirkungen auf die Wirtschaft. „Bezüglich der Intensität des Lockdowns ist es so, dass die Politik einen Kompromiss eingehen muss zwischen einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität und der Sterblichkeit infolge des Virus“, sagt Dawid. Als günstig unter diesen Bedingungen hat sich im Modell jedenfalls ein frühzeitiger Lockdown über mehrere Wochen erwiesen, durch den die Infektionszahlen stark sinken. „Werden die Maßnahmen hingegen nur kurz durchgeführt, besteht immer die Gefahr, dass es zu einer zweiten Infektionswelle kommt und erneut alles geschlossen wird“, sagt Dawid. Das würde nicht nur die Anzahl der Menschen erhöhen, die durch das Virus sterben, sondern auch die wirtschaftlichen Verluste, die insgesamt entstehen.
Das Modell simuliert außerdem die Öffnungsphase nach einem Lockdown. Dabei stellen sich der Politik Fragen: Wann soll sie einen Lockdown beenden? Welche Beschränkungen sollten sofort aufgehoben werden, welche Verbote zunächst weiter gelten? Welche individuellen Maßnahmen sind zudem sinnvoll, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen? Die Autor*innen der Studie empfehlen, nach einem langen Lockdown wie in Deutschland schnell umfassende Lockerungen zuzulassen – sofern die Zahl der Infizierten pro Woche nicht über 5 pro 100.000 steigt. „Dies gilt aber nur, wenn individuelle Maßnahmen die Lockerungen flankieren“, sagt Dawid. Falls es nicht möglich ist, Maßnahmen wie zum Beispiel Abstand halten oder das Tragen von Masken weiterhin im gleichen Ausmaß wie während des Lockdowns aufrecht zu erhalten, rät Dawid eher zu vorsichtigen Lockerungen. „Wir gehen davon aus, dass alles – von Geschäften bis zu Sportvereinen – schnell wieder öffnen sollte, wenn die ergänzenden Maßnahmen die Ansteckungsgefahr bei einem Treffen mit Infizierten im Schnitt um rund 60 Prozent reduzieren“, sagt Dawid. „Andernfalls ist eine langsame Öffnung günstiger.“ Denn sonst besteht auch hier die Gefahr, dass das Virus wiederkehrt und ein zweiter Lockdown notwendig wird – nicht nur mit mehr Todesfällen, sondern auch mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen.
Als wichtig haben sich zudem wirtschaftliche Hilfen erwiesen. „Unabhängig von der Gestaltung der Einschränkungen haben unsere Simulationen gezeigt, dass ergänzende wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen sinnvoll sind“, sagt Dawid. „Sie verringern den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts erheblich, erhöhen aber auf lange Sicht nicht die Staatsverschuldung.“ Zu den möglichen Maßnahmen gehört es zum Beispiel, Kurzarbeit zu ermöglichen, Arbeitslosengeld zu zahlen und Unternehmen zu unterstützen, die durch die Eindämmungsmaßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.
Die Wissenschaftler*innen haben das Modell mit den Daten zur bisherigen Entwicklung in Deutschland abgeglichen. Das Modell war in der Lage, die deutschen Zahlen für die 63 Tage zwischen dem 9. März und dem 10. Mai 2020 in Bezug auf die wirtschaftlichen und virologischen Daten zu reproduzieren. Dieser Vergleich mit den deutschen Zahlen zeigt, dass das Modell valide ist. „Das Modell erscheint uns sehr geeignet, um die Ausbreitung eines infektiösen und potenziell tödlichen Virus mit seinen Folgen auf die Wirtschaft nachzuvollziehen und vorauszusagen“, sagt Dawid.
Das Modell ist darüber hinaus grundsätzlich übertragbar auf andere Länder. „Man muss dann natürlich einige Parameter ändern, die man schnell einarbeiten könnte“, sagt Dawid. Dazu zählt zum Beispiel die Altersstruktur der Bevölkerung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und insbesondere auch die Zahl der Intensivbetten. Sollte es einmal eine Pandemie mit einem anderen Virus geben, könnte das Modell ebenfalls hilfreich sein, um die Folgen politischer Maßnahmen vorauszuberechnen. „In dem Fall müssten wir die Infektionswahrscheinlichkeiten und altersabhängigen Todesraten entsprechend modifizieren“, sagt Dawid.
Originalveröffentlichung:
Alessandro Basurto, Herbert Dawid, Philipp Harting, Jasper Hepp, Dirk Kohlweyer: Economic and epidemic implications of virus containment policies: insights from agent-based simulations. https://doi.org/10.4119/unibi/2944282
Weitere Informationen:
Website des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie und Computational Economics
Kontakt:
Prof. Dr. Herbert Dawid, Universität Bielefeld
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften
Telefon: 0521 106-4843
E-Mail: hdawid@uni-bielefeld.de
Wie wirken sich die Einschränkungen durch die Coronakrise auf die Wirtschaft aus? Welche Maßnahmen sind geeignet, um die Zahl der Infizierten und Toten durch Sars-CoV-2 möglichst niedrig zu halten? Und wie hängen beide Dynamiken miteinander zusammen? Das haben Wissenschaftler*innen der Universität Bielefeld erforscht und nun in einer Studie veröffentlicht. Dazu haben sie in einem Computermodell mit hoher Voraussagekraft simuliert, wie sich das Virus verbreitet und wie sich zugleich unterschiedliche Eindämmungsmaßnahmen auswirken – und zwar sowohl auf das Bruttoinlandsprodukt und die Arbeitslosenzahlen als auch auf die Zahl der Infizierten und der an Covid-19 Verstorbenen.
Der Ökonom Prof. Dr. Herbert Dawid hat mit seiner Arbeitsgruppe ein Modell entwickelt, dass die Folgen unterschiedlicher Eindämmungsmaßnahmen in der Coronakrise auf die Wirtschaft und auf die Fallzahlen untersucht. Foto: Universität Bielefeld/Philipp Ottendörfer
Für die Modellierung der Ausbreitung des Virus stützten sich die Forscher*innen auf etablierte epidemiologische Modelle. Auf Seiten der Wirtschaft sind im Modell ein öffentlicher und drei private Sektoren sowie Haushalte mit einer unterschiedlichen Altersstruktur angelegt. Berücksichtigt wird zudem individuelles Verhalten. Als Verbreitungskanäle des Virus sind Arbeit, Einkaufen und private Treffen vorgesehen.
In ihrem Modell haben die Wissenschaftler*innen zunächst Maßnahmen simuliert, um die Verbreitung des Virus unter Kontrolle zu bekommen. Dabei stehen unterschiedliche Stellschrauben zur Verfügung, darunter auch solche, die zumindest im Modell keine Auswirkungen auf die Wirtschaftsaktivität haben. Dazu zählt zum Beispiel, dass mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Ziel der Simulation ist dabei immer, dass die Zahl der Infizierten nicht über einen Schwellwert steigt, bei dem die vorhandene Zahl an Intensivbetten nicht mehr ausreicht.
Das ließ sich in der Studie alleine mit solchen „weichen“ Maßnahmen allerdings kaum erreichen. Als notwendig zeigte sich hingegen ein recht harter Lockdown, der – ähnlich wie es in Deutschland geschehen ist – zum Beispiel mit der Schließung von Geschäften einhergeht. Dies hat natürlich entsprechende Auswirkungen auf die Wirtschaft. „Bezüglich der Intensität des Lockdowns ist es so, dass die Politik einen Kompromiss eingehen muss zwischen einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität und der Sterblichkeit infolge des Virus“, sagt Dawid. Als günstig unter diesen Bedingungen hat sich im Modell jedenfalls ein frühzeitiger Lockdown über mehrere Wochen erwiesen, durch den die Infektionszahlen stark sinken. „Werden die Maßnahmen hingegen nur kurz durchgeführt, besteht immer die Gefahr, dass es zu einer zweiten Infektionswelle kommt und erneut alles geschlossen wird“, sagt Dawid. Das würde nicht nur die Anzahl der Menschen erhöhen, die durch das Virus sterben, sondern auch die wirtschaftlichen Verluste, die insgesamt entstehen.
Das Modell simuliert außerdem die Öffnungsphase nach einem Lockdown. Dabei stellen sich der Politik Fragen: Wann soll sie einen Lockdown beenden? Welche Beschränkungen sollten sofort aufgehoben werden, welche Verbote zunächst weiter gelten? Welche individuellen Maßnahmen sind zudem sinnvoll, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen? Die Autor*innen der Studie empfehlen, nach einem langen Lockdown wie in Deutschland schnell umfassende Lockerungen zuzulassen – sofern die Zahl der Infizierten pro Woche nicht über 5 pro 100.000 steigt. „Dies gilt aber nur, wenn individuelle Maßnahmen die Lockerungen flankieren“, sagt Dawid. Falls es nicht möglich ist, Maßnahmen wie zum Beispiel Abstand halten oder das Tragen von Masken weiterhin im gleichen Ausmaß wie während des Lockdowns aufrecht zu erhalten, rät Dawid eher zu vorsichtigen Lockerungen. „Wir gehen davon aus, dass alles – von Geschäften bis zu Sportvereinen – schnell wieder öffnen sollte, wenn die ergänzenden Maßnahmen die Ansteckungsgefahr bei einem Treffen mit Infizierten im Schnitt um rund 60 Prozent reduzieren“, sagt Dawid. „Andernfalls ist eine langsame Öffnung günstiger.“ Denn sonst besteht auch hier die Gefahr, dass das Virus wiederkehrt und ein zweiter Lockdown notwendig wird – nicht nur mit mehr Todesfällen, sondern auch mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen.
Als wichtig haben sich zudem wirtschaftliche Hilfen erwiesen. „Unabhängig von der Gestaltung der Einschränkungen haben unsere Simulationen gezeigt, dass ergänzende wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen sinnvoll sind“, sagt Dawid. „Sie verringern den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts erheblich, erhöhen aber auf lange Sicht nicht die Staatsverschuldung.“ Zu den möglichen Maßnahmen gehört es zum Beispiel, Kurzarbeit zu ermöglichen, Arbeitslosengeld zu zahlen und Unternehmen zu unterstützen, die durch die Eindämmungsmaßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.
Die Wissenschaftler*innen haben das Modell mit den Daten zur bisherigen Entwicklung in Deutschland abgeglichen. Das Modell war in der Lage, die deutschen Zahlen für die 63 Tage zwischen dem 9. März und dem 10. Mai 2020 in Bezug auf die wirtschaftlichen und virologischen Daten zu reproduzieren. Dieser Vergleich mit den deutschen Zahlen zeigt, dass das Modell valide ist. „Das Modell erscheint uns sehr geeignet, um die Ausbreitung eines infektiösen und potenziell tödlichen Virus mit seinen Folgen auf die Wirtschaft nachzuvollziehen und vorauszusagen“, sagt Dawid.
Das Modell ist darüber hinaus grundsätzlich übertragbar auf andere Länder. „Man muss dann natürlich einige Parameter ändern, die man schnell einarbeiten könnte“, sagt Dawid. Dazu zählt zum Beispiel die Altersstruktur der Bevölkerung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und insbesondere auch die Zahl der Intensivbetten. Sollte es einmal eine Pandemie mit einem anderen Virus geben, könnte das Modell ebenfalls hilfreich sein, um die Folgen politischer Maßnahmen vorauszuberechnen. „In dem Fall müssten wir die Infektionswahrscheinlichkeiten und altersabhängigen Todesraten entsprechend modifizieren“, sagt Dawid.
Originalveröffentlichung:
Alessandro Basurto, Herbert Dawid, Philipp Harting, Jasper Hepp, Dirk Kohlweyer: Economic and epidemic implications of virus containment policies: insights from agent-based simulations. https://doi.org/10.4119/unibi/2944282
Weitere Informationen:
Website des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie und Computational Economics
Kontakt:
Prof. Dr. Herbert Dawid, Universität Bielefeld
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften
Telefon: 0521 106-4843
E-Mail: hdawid@uni-bielefeld.de