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Corona: Wohnungslose Menschen stecken sich schnell an (Nr. 57/2021)
Untersuchung der Universität Bielefeld belegt erhöhtes Infektionsrisiko
Menschen ohne festen Wohnraum und Mitarbeitende in entsprechenden Notunterkünften sind einer hohen Gefahr ausgesetzt, sich mit Corona zu infizieren. Das ist das Ergebnis einer Studie von Epidemiolog*innen der Universität Bielefeld in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Forschungsteam hat Studien zusammengefasst, die das Übertragungsrisiko und die Konsequenzen von Corona bei wohnungslosen Personen untersucht haben. Die weltweit erste metaanalytische Studie zu Wohnungslosigkeit und Corona erscheint heute (23.07.2021) in der renommierten Fachzeitschrift EClinicalMedicine der Lancet-Gruppe.
Gemeinsam mit Forschenden der Ludwig-Maximilians-Universität München haben Bozorgmehr und Mitglieder seiner Arbeitsgruppe den Stand der Forschung systematisch untersucht. Die Metaanalyse zeigt: Im Falle eines akuten Corona-Ausbruchs in Notunterkünften steigt der Anteil infizierter Bewohner*innen von rund 2 auf 32 Prozent. Auch die Mitarbeitenden in Notunterkünften sind einem größeren Risiko ausgesetzt – bei einem Ausbruch steigt die Rate infizierter Personen von circa 1,6 auf 15 Prozent.
Insgesamt 37 empirische Studien haben die Forschenden bewertet – 13 Studien davon aus der ersten Jahreshälfte 2020, der Rest aus der Zeit bis zum Februar 2021. „Wir haben die Studien nach vorher festgelegten Kriterien ausgewählt“, so Amir Mohsenpour von der Universität Bielefeld, der Erstautor der Untersuchung. „Aus rund tausend Studien haben wir diejenigen gefiltert, die sich empirisch mit Corona-Infektionen im Kontext von Wohnungslosigkeit beschäftigen und bereits in wissenschaftlichen Journalen publiziert sind. Wohnungslosigkeit ist hierbei ein Oberbegriff für unterschiedliche Lebens- und Wohnverhältnisse – beispielsweise fallen darunter Personen, die im Freien übernachten. Da diese Personengruppe aber nur schwer zu erreichen ist, beschäftigen sich die Studien mehrheitlich mit Menschen, die in temporären Notunterkünften unterkommen.“
Die Daten aus den Studien beschreiben überwiegend die Situation in den USA. Außerdem erfasst sind Studien aus Kanada, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Dänemark, Brasilien, Südafrika, Italien, Spanien und der Slowakei. „In Deutschland wurden bisher noch keine Studien zu dem Thema in Fachzeitschriften veröffentlicht, aber im Kern finden wir hier dieselben Muster“, sagt Bozorgmehr. „Beengte Unterkünfte in der kalten Jahreszeit und gemeinsame Sanitäranlagen beispielsweise stellen ein erhöhtes Risiko für eine Ansteckung dar.“
Neben den Zahlen haben die Wissenschaftler*innen auch vorgeschlagene Maßnahmen aus den Studien zusammengefasst. So bestätigt sich, dass ein reiner Fokus auf das Erkennen von Symptomen nicht ausreicht. „Husten und Fieber sind sehr spezifische Symptome, die jedoch nicht alle Infizierten zeigen. Eine Hauptmaßnahme sollte es sein, viel und weit zu testen“, sagt Mohsenpour. „Dazu kommt die nicht-sesshafte Lebensweise. Daher raten ein Forschungsteam aus den USA und auch das dortige Centers for Disease Control and Prevention, sich nicht auf die reine Kontaktverfolgung zu konzentrieren. Es sollte zusätzlich standortbezogen getestet werden, ungeachtet von den direkten Kontakten im Umfeld. Zudem sind genug Räumlichkeiten zum Aufteilen notwendig: Räume für die positiv getesteten, für die negativ getesteten und für diejenigen, deren Ergebnisse noch ausstehen.“
Die weiteren erforderlichen Maßnahmen hat ein Artikel aus Boston (USA) übersichtlich strukturiert, so die Wissenschaftler*innen: „Die erste Maßnahmengruppe beinhaltet die hygienischen Maßnahmen, darunter fallen das Tragen von Masken, das Desinfizieren der Hände und ähnliches“, erläutert Amir Mohsenpour. „Die zweite Gruppe betrifft die Lebensumwelt – größere Abstände zwischen den Betten und gestaffelte Essensausgaben beispielsweise. Die dritte Gruppe beinhaltet die administrativ-organisatorischen Maßnahmen, beispielsweise die bessere Zusammenarbeit mit Laboren und ein engerer Kontakt zu den Krankenhäusern.“
Bislang fehlen allerdings Studien, die die Wirksamkeit und Auswirkungen der vorgeschlagenen Maßnahmen testen. „Diese Art von Studien sind aufwendig und benötigen mehr Zeit und Daten“, so Kayvan Bozorgmehr. „Laut einer Studie aus Kalifornien vermeidet ein Viertel der obdachlosen Menschen die Notunterkünfte aus Angst vor einer Ansteckung. Es ist dringend geboten, entsprechende Schutzkonzepte für Menschen ohne festen Wohnraum zu entwickeln – gerade für zukünftige Pandemien.“
Kontakt:
Prof. Dr. Kayvan Bozorgmehr, Universität Bielefeld
Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Telefon: 0521 106-6311 (Sekretariat: -6889)
E-Mail: kayvan.bozorgmehr@uni-bielefeld.de
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