Medizin
Interview zur Medizinischen Fakultät mit Professorin Dr. med. Claudia Hornberg
Frau Prof’in Hornberg, die Medizinerausbildung an der Medizinischen Fakultät in Bielefeld soll nach dem Willen der Landesregierung insbesondere darauf ausgerichtet sein, die ambulante Medizin zu stärken. Inwiefern wird die Allgemeinmedizin besonders berücksichtigt?
Von Beginn an haben wir bei der Entwicklung auf eine Stärkung der ambulanten Medizin und im Besonderen auf die Allgemeinmedizin geachtet. Allgemeinmedizinische Inhalte sind bereits in den klinischen Lehrinhalten ab dem Studienstart im Curriculum abgebildet. Ich nenne Ihnen hier mal einige Beispiele:
Ab dem ersten Fachsemester werden die Studierenden eine*n Patientin*en begleiten, die*der in einer ambulanten hausärztlichen Praxis in Ostwestfalen-Lippe in einer langfristigen Behandlung ist. Die Begleitung wird in Zusammenarbeit mit der*dem behandelnden Mediziner*in erfolgen, und ist nach Möglichkeit auf die Dauer des gesamten Studiums angelegt. Unter anderem dadurch sollen die Studierenden einen intensiven Einblick in die Arbeit in einer niedergelassenen Praxis erhalten, aber auch die Perspektive von Langzeit-Patient*innen kennenlernen.
Im zweiten Semester ist das erste Blockpraktikum in einer hausärztlichen Praxis vorgesehen. Weitere Praktika dieser Art sind im gesamten weiteren Studienverlauf (3. Fachsemester, 8. und 9. Fachsemester) eingeplant, einschließlich einer begleiteten Famulatur in einer Hausarztpraxis zwischen dem 5. und 6. Fachsemester. Praktika in ländlich gelegenen Praxen sind dabei ausdrücklich erwünscht und werden gefördert.
Werden bereits beim Zulassungsverfahren prioritär die an einer hausärztlichen Tätigkeit interessierten Studierenden eignungsgerecht ausgewählt?
Das wäre sehr wünschenswert. In den ersten Jahren wird das aber aufgrund der aktuellen Umstellungen im Zulassungsverfahren kaum möglich sein. Aber wir denken natürlich schon darüber nach, wie wir genau die Studierenden gewinnen können, die auf unser Curriculum gut passen. Da spielt neben der direkten Auswahl auch eine Rolle, wie wir unsere Schwerpunkte nach außen kommunizieren, sodass die Bewerber*innen sich bewusst für Bielefeld und unseren Ansatz entscheiden können.
Wurden die ostwestfälischen Ärztenetze (Bielefeld, Gütersloh, Paderborn, Lippe, Bünde) mit ins Boot geholt?
Wir wussten schon seit Beginn des Aufbauprozesses, dass die niedergelassenen Kolleg*innen der Region eine entscheidende Rolle für das Gelingen einer guten medizinischen Ausbildung in Bielefeld spielen werden. Uns war deshalb wichtig, auch die Hausärzt*innen mit ins Boot zu holen, deshalb hat auch schon sehr früh ein erstes Austauschtreffen mit den Ärztenetzen stattgefunden. Im Frühjahr 2019 gab es dann erstmals einen strukturierten Kontakt zu den niedergelassenen Kolleg*innen in der Region; dort haben wir viele positive Signale für eine zukünftige Zusammenarbeit erhalten. Einige Kolleg*innen waren bereits sehr engagiert in der Curriculumsentwicklung, andere haben sich in Arbeitsforen oder auch in den größeren Lehrpraxentreffen eingebracht. Wir sind froh, dass wir nun mit Bettina Leeuw und Cornelia Buldmann zwei Kolleginnen aus dem Kreis der niedergelassenen Ärzt*innen für den weiteren Aufbau des Lehrpraxennetzwerks gewinnen konnten und die Einbindung der Hausärzt*innen und vor allem unsere Kommunikation dadurch intensivieren können.
Erhalten die niedergelassenen Ärzte für die Beteiligung an AGs eine Vergütung von der Uni?
Leider können wir die aktuelle Arbeit in den Arbeitsgruppen und den Arbeitsforen nicht vergüten, auch wenn wir wissen, dass sie mit teilweise hohen Aufwänden verbunden sind. Wir sind froh, dass sich trotzdem viele engagieren und in die Entwicklung einbringen.
Wie ist der aktuelle Stand der Entwicklung? Ist der Studienstart zum Wintersemester 2021/2022 zu schaffen?
Daran habe ich keinen Zweifel. Dank der kontinuierlichen Entwicklungsarbeit in den Programmen der Medizinischen Fakultät OWL und vor allem dank der Mitarbeit vieler Externer ist das weiterhin absolut realistisch.
Wir möchten uns an dieser Stelle recht herzlich bei allen Ärzt*innen bedanken, die uns auf dem bisherigen Weg bereits mit ihrer wertvollen Expertise unterstützen und begleiten konnten. Angedacht ist auch eine gemeinsame Veranstaltung – sobald die Sicherheitsvorkehrungen und die COVID-19-Situation dies wieder zulassen.
Welche Meilensteine wurden bisher erreicht?
Als wichtige Meilensteine sehe ich: Die Akkreditierungskriterien für die Lehrpraxen sind abgesteckt, sodass wir nun in die detaillierte Ausarbeitung gehen können. Bei den ersten vier Arbeitsforen zum Aufbau des Lehrpraxennetzwerks haben wir viele Teilnehmer*innen und Interessent*innen verzeichnen können. Unsere Angebote fallen auf fruchtbaren Boden und unsere gewählten Kriterien sind recht ähnlich zu denen der umliegenden Universitäten. Wir hoffen hier auf eine gute Zusammenarbeit insbesondere mit den angrenzenden Universitäten wie der Ruhr-Universität Bochum, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie der Medizinischen Hochschule Hannover und weiteren.
Wie weit sind Sie mit der Entwicklung des Bielefelder Modellstudiengangs?
Wir schreiten mit großen Schritten voran und sind mit der Entwicklung schon sehr konkret – bereits im Herbst möchten wir den Genehmigungsantrag für den Studiengang beim Land einreichen. Dann müssen die wesentlichen Eckpunkte stehen und wir müssen zeigen, dass wir nicht nur die aktuelle Ärztliche Approbationsordnung (ÄApprO) erfüllen, sondern auch einen zukunftsorientierten Studiengang auf den Weg bringen, der in großen Teilen der gerade in Entwicklung befindlichen neuen ÄApprO vorweggreift.
Wir sind da auf einem guten Weg: Der Modellstudiengang Humanmedizin gliedert sich in einen ersten Studienabschnitt mit sechs und einen zweiten Studienabschnitt mit vier Fachsemestern. Im Anschluss folgt das Praktische Jahr. Das Curriculum basiert auf einer organ- und themenzentrierten Lehre entlang von Themenblöcken und longitudinalen Kursen, die sich durch das gesamte Studium ziehen. So werden ab dem ersten Fachsemester theoretische und praxisrelevante klinische Inhalte mit den Grundlagenfächern der Medizin verknüpft und ein integratives Lernen ermöglicht. Angeboten wird zudem ein fakultativer Bachelor mit dem Abschluss "B. Sc. Interdisziplinäre medizinische Wissenschaften".
Inwieweit wird der noch zu berufene Lehrstuhlinhaber Allgemeinmedizin Einfluss auf bereits ausgearbeitete Lehr- und Lerninhalte nehmen?
Das ist eine Frage, die wir uns natürlich sehr früh gestellt haben – das betrifft schließlich alle Professuren. Uns ist es sehr wichtig, Freiräume zu lassen – nur aus der eigenen Motivation heraus kann schließlich gute Lehre entstehen. Das ist im Regelfall leichter, wenn Gestaltungsspielräume vorhanden sind. Und wir sind zuversichtlich, dass die Professur für Allgemeinmedizin noch viele Einflussmöglichkeiten haben wird – deutlich mehr als an bestehenden Standorten, an denen die Rahmenbedingungen oft jahrelang gewachsen sind.
Wie gehen Sie vor, um ein flächendeckendes Lehrpraxennetz in Ostwestfalen-Lippe aufzubauen?
Der ländliche Raum Ostwestfalen-Lippes ist uns ein besonderes Anliegen. Hier planen wir besondere Angebote, um Ärzt*innen und Studierende im Lern- und Lehrprozess zu unterstützen.
Außerdem haben wir Formate entwickelt, wie die Blockpraktika und praktische Lehreinheiten in den Praxen umgesetzt werden können. Die longitudinale Patient*innenbegleitung ist ein fester Bestandteil unseres praktischen Konzeptes.
Können alle niedergelassenen Ärzte, die Interesse daran haben, Lehrpraxis werden?
Ich bin davon überzeugt, dass die meisten interessierten Kolleg*innen einen Großteil der Voraussetzungen bereits mitbringen. Wir freuen uns jedenfalls, wenn wir mit möglichst vielen in den Akkreditierungsprozess gehen können – und ich bin sicher, dass wir jede Unterstützung sehr gut gebrauchen können.
Wird die Medizinische Fakultät die niedergelassenen Ärzte auf ihre Rolle als Lehrpraxen und die damit verbundenen Aufgaben vorbereiten? Gibt es z. B. kostenlose Schulungen vonseiten der Medizinischen Fakultät?
Ja, wir haben bereits aus den ersten Gesprächen mit Vertreter*innen der Niedergelassenen mitgenommen, dass da nicht nur eine Bereitschaft, sondern auch ein Wille ist, sich auf die anstehenden Aufgaben strukturiert vorzubereiten. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir diesem Wunsch nachkommen und darüber hinaus ist es ein wichtiger Aspekt der Qualitätssicherung. Wir werden für bestimmte Lehrveranstaltungen um eine vorangestellte Fortbildung nicht herumkommen. Geplant ist eine Kombination aus Online- und Präsenzveranstaltungen.
Haben Sie Wünsche an die Mitglieder der IBH und des Ärztenetzes Bielefeld e.V.?
Wir sind sehr erfreut, über das Engagement der niedergelassenen Ärzt*innen. An den Arbeitsgruppen zur Curriculumsentwicklung und an den bisher vier Arbeitsforen der Lehrpraxen haben sich viele aktiv beteiligt. Wir würden uns sehr freuen, wenn dieses Engagement anhielte und wünschen uns, sowohl ein Lehr- als auch ein Forschungspraxennetzwerk mit vielen motivierten Kolleg*innen auf die Beine zu stellen. Um die Forschung im ambulanten Bereich frühzeitig zu fördern und zu stützen, haben wir auch den Anschubfonds Medizin Forschung (AMF) so ausgerichtet, dass insbesondere Kooperationen zwischen niedergelassenen und in Kliniken tätigen Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen der Universität gefördert werden.
Unser Wunsch ist es insgesamt, die Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Sektor – insbesondere mit Blick auf Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen – zu intensivieren und Kooperationen zwischen Ärzt*innen in Praxen sowie in Kliniken und Wissenschaftler*innen an der Universität anzuregen. Und natürlich wünschen wir uns einen weiterhin so offenen Austausch wie bisher.
Das Interview führte Karin Kükenshöner. Es erschien in der Juni-Ausgabe der "Netznachrichten" des Ärztenetzes Bielefeld. e.V.