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Zeynep Demir & Aydin Bayad: "Das muslimische Leben in der Corona-Krise - Muslim life in the Corona crisis"

Veröffentlicht am 11. August 2020, 12:16 Uhr

Das muslimische Leben in der Corona-Krise

Zeynep Demir & Aydin Bayad

*** See English version below ***

“Wir können uns hier in Deutschland auf Expertinnen und Experten stützen, die zu den besten und angesehensten in der Welt gehören. Der erste Test zum sicheren Nachweis einer Corona Infektion wurde frühzeitig hier in Deutschland entwickelt und an unsere weltweiten Partner gegeben“ so der Gesundheitsminister Jens Spahn in der Regierungserklärung zur Corona Pandemie in Deutschland im März 2020 (BGM). Deutschland scheint im Kampf gegen das Coronavirus gut gerüstet zu sein - mit Corona-Warn-Apps, Hotlines für das Coronavirus, Informationskampagnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel lobt das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger - die Menschen in Deutschland hätten „verantwortungsvoll gelebt“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung). Die deutschen Bürgerinnen und Bürger scheinen sich weitgehend an soziale Distanzierung, Kontaktsperren, Besuchsregeln, Quarantänemaßnahmen und möglichst auch an die Arbeit im Home-Office zu halten. In Zeiten der Corona-Krise stellt sich in der Berichterstattung über die Einhaltung wieder erneut die Frage der Integration. Die Frage lautet: „Werden sich die Muslime an die Vorschriften halten?“ (Die Tagespost am 25.4.2020). Die Göttinger Stadträtin Broistedt sprach von einem „unvernünftigen, unverantwortlichen Verhalten von Einzelpersonen“, die in Göttingen im Zusammenhang mit einer Zunahme von Corona Infektionen nach privaten Feiern des Islamischen Religionsfestes gespielt hätten. Demnach wurden mehrere hundert Personen unter Quarantäne gestellt und die Göttinger Schulen mussten schließen (Braunschweiger Zeitung am 2.6.2020). „Ist das Verhalten der Muslime, die sich in Neukölln versammelt haben, ein Zeichen mangelnder Integration? Ja - denn es war kein singuläres Ereignis“ (Die Tagespost am 25.4.2020). Aus sozialpsychologischer Sicht soll dieser Blogeintrag erklären, warum diese Frage nicht ohne weiteres mit einem Ja beantwortet werden kann. 

Die deutsche Gesellschaft ist stark von kultureller und ethnischer Vielfalt geprägt. Als eine vielfältige und kulturell pluralistische Gesellschaft leben in Deutschland viele verschiedene ethnische Gruppen zusammen, unter ihnen bilden Muslime die zweitgrößte religiöse Gruppe und die größte Diaspora bilden die Türk*innen in Deutschland. Eine Möglichkeit, diese Vielfalt zu erforschen, besteht darin, die zugrundeliegenden Faktoren zu untersuchen, die das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund hier erklären. Aus sozialpsychologischer und kulturvergleichender Perspektive kann hier das Akkulturationsmodell von Berry (1997) als theoretischer Rahmen zur Beantwortung der obigen Frage herangezogen werden. In Bezug auf die psychologische Akkulturation gibt es signifikante Unterschiede in der Art und Weise, wie Menschen akkulturieren (Arends-Toth & Van de Viver, 2003). Nach Berry (1997) können sich Menschen in dem Maße unterscheiden, in dem sie ihre Herkunftskultur beibehalten oder sich an die Aufnahmekultur anpassen. Auf der Gruppenebene wird zwischen zwei sozialen Kontexten unterschieden: Die Herkunftskultur und die Aufnahmekultur. In der Herkunftskultur werden die politischen, wirtschaftlichen und demographischen Bedingungen berücksichtigt. Im Kontext der Aufnahmekultur sind Grundorientierungen gegenüber denjenigen, die in das jeweilige Land einwandern, zu berücksichtigen. Neben politischen Positionen zur multikulturellen Gesellschaft und Einstellungen gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen sind auch soziale Unterstützungssysteme von Bedeutung. Neben physischen und biologischen Veränderungen können bei Migrant*innen auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen auftreten. Vor allem die Transnationalismusforschung hat gezeigt, dass Einwanderer tatsächlich eher in einem transnationalen sozialen Raum als in einer einzigen Gesellschaft leben (Amelina & Faist, 2008).   Neuere sozialpsychologische Erkenntnisse über die Vermittlung von Botschaften an die Öffentlichkeit zeigen auch, dass Menschen dazu neigen, die Regeln zu befolgen, wenn die Botschaft klar ist und ein Gefühl von „wir“ erzeugen kann (Van Bavel et al. 2020). Im Umgang mit der Corona-Pandemie folgt die deutsche Mehrheitsgesellschaft den gesetzlichen Regeln - hier sehen wir eine "dem System/den Regeln folgen"-Mentalität (unidirektionaler kultureller Vergleich). In der muslimischen Minderheitsgesellschaft hingegen sehen wir eher eine „dem System/den Regeln vertrauen“-Mentalität (bidirektionaler kultureller Vergleich). Aussagen wie „Uns kann in Deutschland bestimmt nichts passieren“ kann diese Mentalität unterstreichen. Die Lebenssituation mit all ihren Facetten kann im Vergleich mit der Herkunftskultur stehen. Auch die Zahl der Todesfälle, das Gesundheitssystem oder das staatliche Handeln im Umgang mit der Corona-Pandemie können hier als Teil des Alltagslebens im Vergleich stehen. Der bidirektionale Vergleich dürfte in diesem Fall zu mehr Vertrauen in die Aufenthaltskultur führen. Denn „Hier kann uns bestimmt nichts passieren“ sind Aussagen, die unter eingewanderten Muslim*innen zu hören sind. So würden demzufolge die offiziellen Erklärungen über ein relativ sicheres System in Deutschland dazu führen, dass Zuwanderer*innen leicht der Norm ihrer Gemeinschaft folgen, die auf sozialen Bindungen und Netzwerken beruht. Aus empirischer Sicht müsste es nicht um den Grad mangelnder Integration gehen, sondern darum, ob sich die Erfahrung und Wahrnehmung des deutschen Systems mit all seinen Unterkategorien wie Gesundheitsversorgung, Bildungsangebote etc. von der der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Im Umgang mit der Corona Pandemie stellt sich also eher die Frage: Haben Muslim*innen in Krisensituationen mehr Vertrauen in das (Gesundheits-)System und verhalten sich dementsprechend als die deutsche Mehrheitsgesellschaft? Definieren vor allem eingewanderte Muslim*innen, eine Krise anders als die einheimischen Deutschen? Ist die Botschaft an die Öffentlichkeit in Deutschland inklusiv genug, um über alle Unterschiede hinweg ein Wir-Gefühl zu erzeugen? 

Alles in allem ist dieser Blog-Eintrag ein Versuch, das Verhalten der Muslim*innen in Deutschland während der Corona-Pandemie aus sozialpsychologischer Perspektive zu verstehen. Das muslimische Leben in Deutschland ist sehr vielfältig und heterogen, da es nicht die Muslime gibt. Die anhaltende Problematisierung der muslimischen Zugehörigkeit im Umgang mit der Corona-Pandemie im medialen Diskurs kann zu einer Homogenisierung und Essentialisierung von einer religiösen Gruppe führen. Wir wissen, dass man sich an die Regel hält, wenn die Botschaften wirksam genug sind, um ein „Wir-Gefühl“ zu erzeugen. Wenn jedoch für einige Gruppen die Botschaften nicht wirken, sollte dies implizieren, dass eine einfache Übersetzung der Botschaften für Einwanderer nicht ausreicht, da sie nicht in einer einzigen Gesellschaft leben.  Es wäre wichtig - auch im medialen Diskurs – gesellschaftliche Fragen unter Berücksichtigung der multikulturellen und -religiösen Realität so zu formulieren, sodass das Zusammenleben bei der Suche nach Antworten nicht noch mehr gespalten wird.


Muslim life in the Corona crisis 

“Here in Germany, we can rely on experts who are among the best and most respected in the world. The first test for the reliable detection of a corona infection was developed here in Germany at an early stage and given to our worldwide partners,” said Health Minister Jens Spahn in the government declaration on the corona pandemic in Germany in March 2020 (BGM). Germany seems to be well equipped in the fight against the corona virus - with corona warning apps, hotlines for the coronavirus, information campaigns. Chancellor Angela Merkel praises the behavior of the citizens - people in Germany would have “lived responsibly” (Press and Information Office of the Federal Government). The German citizens seem to largely adhere to social distancing, contact blocks, visiting rules, quarantine arrangements and work in the home office if possible. In times of the Corona crisis, however, the question of integration is raised again in the reporting about compliance with the regulation. The question is “Will Muslims comply with the regulations?” (Die Tagespost on 25.4.2020). The city councilor Broistedt in Göttingen spoke of an “unreasonable, irresponsible behavior of individuals” who had played in connection with an increase in corona infections after private celebrations of an Islamic religious celebration in Göttingen. According to this, several hundred people were quarantined, and the schools had to close in Göttingen (Braunschweiger Zeitung on 2.6.2020). “Is the behavior of the Muslims who gathered in Neukölln a sign of lack of integration? Yes - because it was not a singular event.” (Die Tagespost on 25.4.2020). From a socio-psychological point of view, this blog entry aims to explain why this question cannot be easily answered with a yes.

German society is strongly influenced by cultural diversity and ethnic diversity. As a diverse and culturally plural society, many different ethnic groups live together in Germany and among them, Muslims form the second-largest religious group and the largest diaspora is made up of Turks in Germany. One way to explore this diversity is to examine the underlying factors that explain how people from different cultural backgrounds live together here. From a socio-psychological and cross-cultural perspective, the acculturation model of Berry (1997) can be used here as a theoretical framework for answering the above question. In terms of psychological acculturation, there are significant differences in the way people acculturate (Arends-Toth & Van de Viver, 2003). According to Berry (1997), individuals may differ in the degree to which they maintain their culture of origin or adapt to the culture of the host country. At the group level, a distinction is made between two social contexts: The culture of origin and the host culture. Political, economic, and demographic conditions are considered in the culture of origin. In the context of the host culture, basic orientations towards those who immigrate to the respective country are to be considered. In addition to political positions on multicultural society and attitudes towards certain ethnic groups, social support systems are of importance. In addition to physical and biological changes, economic, social, and cultural changes can occur among immigrants. Above all, transnationalism research revealed that, immigrants live in a transnational social space, not in a single society (Amelina & Faist, 2008). Recent social psychological insights about messaging the public also show that people tend to follow the rules if the message is clear and can create a sense of ‘us’ (Van Bavel et al. 2020). In dealing with the Corona Pandemic, the German majority society follows the legal rules - here we see a “follow the system/rules” mentality (based on a unidirectional cultural comparison). In the Muslim minority society, however, we see a “trust the system/rules” mentality (based on a bidirectional cultural comparison). Statements such as “Nothing can happen to us in Germany” can emphasize this mentality. The life situation with all its facets can be compared with the culture of origin. The number of deaths, the health care system, or government action in dealing with the corona pandemic can also be compared here as a part of everyday life. The bidirectional comparison is likely to lead to greater trust in the culture of residence in this case. Because “Nothing can happen to us here” are statements that can be heard among Muslims who have immigrated. Thus, in the case of the following the official explanations about a relatively secure system in Germany, would lead immigrants to easily follow the norm of their communities which is based on social ties and networks. From an empirical point of view, the question would not have to be the degree of lack of integration, but whether the experience and perception of the German system with all its sub-categories such as health care, educational opportunities, etc. differ from that of the German majority society. Thus, in dealing with the corona pandemic the question is rather: Do Muslims feel more trust in the (health) system and behave accordingly than the German majority society in crisis situations? Do above all immigrated Muslims define a crisis differently than the native Germans? Does message the public in Germany is inclusive enough to create a sense of ‘us’ across all the differences?

All in all, this blog entry is an attempt to reflect upon the behavior of Muslims in Germany during the corona pandemic from a socio-psychological perspective. Muslim life in Germany is very diverse and heterogeneous, as there are no the Muslims. The continuous problematization of Muslim affiliation in the media discourse in dealing with the pandemic can increase the homogenization and essentialization of a religious group. We know that people are following the rule if the messaging strategy is effective enough to create a sense of ‘us’, however, if some groups do not make sense of messaging that should imply that a simple translation of the messages is not enough for immigrants because of the fact that they are not living in a single society. It would be important - also in the media discourse - to formulate social questions in consideration of the multicultural and religious reality so that living together is not divided even more in the search for answers.

Literatur /References:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/reden/regierungserklaerung-coronavirus.html

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-wir-haben-die-erste-phase-der-pandemie-hinter-uns-a-b81464e1-3bdb-4a24-8373-0b7269fe1e07

https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/ansprache-der-kanzlerin-1732108

https://www.die-tagespost.de/politik/aktuell/Berlin-Verhalten-von-Muslimen-waehrend-der-Corona-Krise;art315,207624

https://www.braunschweiger-zeitung.de/niedersachsen/article229234192/Corona-Ausbruch-in-Goettingen-was-geschah-in-der-Shisha-Bar.html

Arends‐Toth, J., & Vijver, F. J. V. D. (2003). Multiculturalism and acculturation: Views of Dutch and Turkish–Dutch. European Journal of Social Psychology, 33(2), 249-266.

Amelina, A., & Faist, T. (2008). Turkish migrant associations in Germany: Between integration pressure and transnational linkages. Revue europeenne des migrations internationales, 24(2), 91-120.

Berry, J. W. (1997). Immigration, acculturation, and adaptation. Applied Psychology, 46(1), 5- 34.

Van Bavel, J. J., Baicker, K., Boggio, P. S., Capraro, V., Cichocka, A., Cikara, M., ... & Drury, J. (2020). Using social and behavioural science to support COVID-19 pandemic response. Nature Human Behaviour, 1-12. 


Zeynep Demir, M.Sc., studierte Psychologie an der Universität Bielefeld, der University of Southampton und an der Universität Bremen.  Sie arbeitet in der Arbeitseinheit "Sozialisation" an der Fakultät für Erziehungswissenschaft und ist assoziiertes Mitglied des von der Stiftung Mercator geförderten Projekts "ZuGleich - Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit" und anderer Projekte in der IKG. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diskriminierung, Migration, Akkulturation und kulturvergleichende Psychologie. 

Kontakt: zeynep.demir@uni-bielefeld.de / Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung / Universität Bielefeld & Fakultät für Erziehungswissenschaft  


Aydin Bayad, MA, hat seinen Master-Abschluss in Sozialpsychologie an der Universität Istanbul gemacht. Gegenwärtig ist er Doktorand an der Universität Bielefeld und assoziierter Forscher am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Seine Forschungsschwerpunkte sind ethnische Identitätsbildung, Identitätskonflikte, Wertewandel und Friedenspsychologie. Als Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung setzt er seine Forschung zum transnationalen Rechtspopulismus und zur Erhaltung der türkischen Identität in Europa fort.

Kontakt: Aydin.bayad@uni-bielefeld.de / Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung / Universität Bielefeld


Zeynep Demir, M.Sc., studied psychology at Bielefeld University, University of Southampton, and University of Bremen.  She is holding a position in the work unit “Socialization” at the Faculty of Educational Science and she is associated member of the project “ZuGleich -Belonging and Equivalency” funded by Stiftung Mercator, and other projects in IKG. Her research focuses on discrimination, migration, acculturation and cross-cultural psychology.

Authors contact: zeynep.demir@uni-bielefeld.de / Institute for Interdisciplinary Research on Conflict and Violence /Bielefeld University & Faculty of Educational Science        


Aydin Bayad, MA., has completed his Master degree in Social Psychology at Istanbul University. Currently, he is a PhD candidate at Bielefeld University and associated researcher in the Institute for Interdisciplinary Conflict and Violence Research (IKG). His research focuses on ethnic identity formation, identity conflict, value change and peace psychology. He is continuing his research on transnational right-wing populism and maintenance of Turkish identity in Europe as a Hans Böckler Foundation fellow.

Authors contact: Aydin.bayad@uni-bielefeld.de / Institute for Interdisciplinary Research on Conflict and Violence / University of Bielefeld


*** Im IKGScienceBlog äußern sich Forscher*innen des IKG zu aktuellen gesellschaftlichen Themen aus der Sicht der Konflikt- und Gewaltforschung. Mit dem Blog soll die gesellschaftliche Debatte über aktuelle Konfliktthemen gefördert werden. Die Blogs stehen für die Sichtweise der Autor*innen. ***

*** In the IKGScienceBlog, IKG researchers comment on current social issues from the perspective of conflict and violence research. The blog aims to promote the social debate on current conflict issues. The blogs represent the authors' point of view. ***
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