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Ein klassensensibler Virus
Ein klassensensibler Virus
von Maximilian Wächter & Baris Ertugrul
Wenn es darum geht, welche sozialen Gruppen besonders von der Covid-19-Pandemie betroffen wird, erscheinen in deutschen Medien immer wieder Beiträge, welche sich um das Thema ‚Migrationshintergrund‘ drehen. Dabei wird oft spekuliert, ob nicht ein Überhang von Menschen mit Migrationsbiografie festzustellen sei, die an Covid-19 erkranken bzw. auf Intensivbetten liegen. Daten darüber werden in Deutschland nicht gesammelt (bzw. nicht veröffentlicht), was den Spekulationen keinesfalls einen Abbruch tut. Für ein höheres Covid-19-Risiko werden dann (angebliche) kulturelle Eigenarten (oder treffender: Unarten) herangezogen. So sollen »Zuwanderer« etwa einen besonders starken Familienzusammenhalt haben (so zuletzt die Neue Westfälische), was wiederum mehr persönliche Kontakte und deswegen mehr Infektionen bedeute.
Allenfalls als Randnotiz wird erwähnt, dass auch die »soziale Lage«, ein Codewort für schwache ökonomische Verhältnisse und Armut, etwas damit zu tun haben könnte. Dabei ist es ein bekanntes Datum, dass prekäre Lebensbedingungen ein primärer Risikofaktor für Krankheit im Allgemeinen sind, und dieser für Covid-19 im Besonderen ebenfalls in Rechnung zu stellen ist. Internationale Studien zeigen, dass dieser Umstand ungebrochen aktuell ist: verschiedene Forscher:innen sind auf Basis ihrer Daten zu dem Schluss gekommen, dass sich Menschen in der ökonomischen Prekarität deutlich häufiger mit Covid-19 infizieren als andere Personen. Wenn sie ebenfalls einen Zusammenhang mit der Migrationsgeschichte der Betroffenen feststellen, kommen sie zu dem Schluss, dass dieser zu einem großen Teil oder komplett durch den Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und ökonomischer Prekarität erklärt wird. Wenn Personen mit Migrationshintergrund häufiger an Covid-19 erkranken, liegt dies also primär daran, dass diese soziale Gruppe häufiger in ökonomisch prekären Verhältnissen leben müssen als andere.
Inwiefern jene aktuellen internationalen Ergebnisse und Einsichten sich ebenfalls auf den lokalen Kontext Bielefeld übertragen lassen, ist dabei Anlass einer kleinformatigen Studie gewesen. Hierzu wurden öffentlich bereitgestellte Daten der Stadt Bielefeld auf diese Frage hin analysiert. Bielefeld wird offiziell in 72 sogenannte statistische Bezirke eingeteilt. Für jeden dieser Bezirke stehen Daten bezüglich des Ausmaßes an Covid-19-Infektionen, der Anzahl an Personen mit Migrationshintergrund und – als Indikator für eine ökonomisch prekäre Lebenssituation – die Anzahl an Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften pro Bezirk zur Verfügung.
Ein erster Zugriff zeigt an, dass es tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und dem Level an Corona-Infektionen auf der Ebene der statistischen Bezirke gibt – und dies in beide Richtungen. In den Bezirken, welche bisher am wenigsten von Covid-19-Infektionen betroffen sind, ist der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund um 10 Prozentpunkte niedriger als im Gesamtdurchschnitt Bielefelds. Umgekehrt ist der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe um 10 Prozentpunkte in den Kreisen höher, welche bisher die größte Anzahl an Infektionen aufweisen.
Dieser Befund für sich zeichnet jedoch ein unvollständiges Bild des Infektionsgeschehens. Denn die Frage, warum dieser Zusammenhang besteht, ist damit nicht geklärt. Ein weiterer Blick in die Daten gibt hier Aufschluss. Wie bereits benannt zeigen verschiedene Studien deutlich, dass Armut ein Risikofaktor für eine Infektion mit Covid-19 darstellt. Um den Anteil an Personen in prekären ökonomischen Verhältnissen zu erfassen, wird auf die Anteile an Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften pro Bezirk zurückgegriffen. Es zeigt sich, dass beide Anteile in den Bezirken Bielefelds extrem eng miteinander zusammenhängen: Je mehr Menschen mit Migrationshintergrund in einem Bezirk leben, desto höher ist auch der Anteil an Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften. (In der Sprache der Statistik: Die Pearson-Korrelation zwischen beiden Variablen beträgt 0.78.) Damit wird statistisch nahegelegt, dass sich nur ein Zusammenhang zwischen Covid-19-Infektionen und Migrationshintergrund zeigt, weil dieser ebenfalls stark mit dem eigentlichen Risikofaktor, einer prekären sozio-ökonomischen Lebenssituation, zusammenhängt. Und mehr noch: Wenn mittels statistischer Verfahren der Einfluss des ökonomischen Risikos heraus gerechnet wird, verschwindet der scheinbare Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Covid-19-Infektionen vollständig. Betrachten wir die am wenigsten von Covid-19 betroffenen Bezirke unabhängig von der ökonomischen Lage ihrer Bewohner:innen, entspricht der durchschnittliche Anteil an Personen mit Migrationshintergrund dem allgemeinen Durchschnitt Bielefelds. In den am stärksten von Covid-19 betroffenen Bezirken liegt der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund nur noch 2 Prozentpunkte über dem allgemeinen Durchschnitt; ein Wert, welcher sich durch die übliche statistische Ungenauigkeit erklären lässt und kein Anzeichen für einen bedeutsamen Effekt ist.
Insgesamt lässt sich vor dem Hintergrund der verfügbaren Daten also zeigen, dass der Effekt des Migrationshintergrunds vollständig auf die ökonomische Ungleichheit zwischen den verschiedenen statistischen Bezirken in Bielefeld zurück geht. Nicht Migration, sondern ökonomische Ungleichheit ist ein wichtiger Treiber dieser Pandemie. Wenn es darum geht, die weitere Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, legen die uns zur Verfügung stehenden Daten nahe, sich also nicht über »kulturellen Eigenheiten« den Kopf zu zerbrechen. Gegenüber Migration ist das Virus indifferent, sensibel bleibt es der Natur nach aber gegenüber klassen- oder schichtspezifische Ungleichheiten. Das mag dann nicht nur virologisch eine wichtige Erkenntnis sein. Es zeigt auch umgekehrt an, wie resilient Rassismus gegenüber Krisen bleibt.
Kontakt: maximilian.waechter@uni-bielefeld.de