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80 Jahre Befreiung von Ausschwitz // 80 Years since the Liberation of Auschwitz
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Der lange Atem der Vernichtung und Barbarei
In Gedenken an die Befreiung der Menschen im KZ Auschwitz
Eine Einnerung von Andreas Zick
Vor genau 80 Jahren, am 27. Januar 1945, ist das Konzentrationslager Auschwitz durch die 60. Armee der Ersten Ukrainischen Front befreit worden. Es war Samstag. Es war Nachmittag. Die Soldaten begegneten Überlebenden und Verstorbenen. Sie waren an einem Ort, für den die Sprache keine Wörter hatte. Die Bilder der Überlebenden an diesem Tag drücken einen kaum zu beschreibenden Zustand aus. Es sind Blicke voller Ungewissheit. Die Geschichten der Zeitzeugen von dem Ort und vielen anderen Orten sind bis heute die wichtigsten Zeugnisse für die Erinnerung; das bestätigen auch unsere Befragungen dazu, wie Menschen sich am liebsten und am besten informieren. Das Unbegreifliche wird scheinbar begreifbarer, wenn Überlebende reden.
In der Konflikt- und Gewaltforschung gibt es keine Erinnerungstage oder -kultur, wie sie Gesellschaften kennen. Sie analysiert sie kontinuierlich, sie versucht im Rahmen der Erinnerungsforschung zu verstehen, was erinnert wird, wie erinnern möglich sein kann, wie sich die Kultur verändert. Bisweilen vergisst die Forschung dabei, wie sehr sie sich nicht nur historisch wandelt, sondern von der Geschichte geprägt und beeinflusst wird und wie sehr sie von der Erinnerung an die Gewalt geprägt ist. Der 27. Januar 2025 ist ein Tag, der Anlass bieten kann, zu erinnern.
Auschwitz ist eine Erinnerung. Wir wissen nicht, ob es eine ewige Erinnerung sein wird. Auschwitz ist ein konkreter Ort. Ein Ort mit einem Vernichtungslager wie auch einem Stadtteil, in dem die Täter ein ‚normales Leben‘ lebten wie inszenierten, ihr häusliches Idyll erhielten, weil sie sich als höherwertig verstanden und Vernichtung als Normalität verstanden. Auschwitz ist heute ein Gedenkort. Auschwitz ist eine Mahnung, wie auch eine Geschichte der systematischen Verachtung der Menschenwürde. Auschwitz ist Erinnerung an eine Gewalt, die vernichtet und die wie kaum ein anderes Ereignis die Frage immer und immer wieder neu aufwirft: Zu wie viel Gewalt sind Menschen fähig? Welche Ideologien und Identitätsvorstellungen, gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und welcher Hass hat Auschwitz möglich gemacht und was davon hinterlässt Spuren, bleibt, lebt wieder auf in neuem Gewandt?
Theodor W. Adorno sagte in seinem Rundfunkaufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ im Jahr 1966: „Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte.“ Auschwitz zu verstehen ist untrennbare Aufgabe der Demokratie und jener, die sich auf sie und ihre Grundrechte-, -werte und -normen berufen, sich als Demokratinnen und Demokraten verstehen, die verpflichtet sind, Menschen und Institutionen vor Barbarei jener zu schützen, die mit Völkischen und rassistischen, wie menschenfeindlichen Ideologien die Barbarei rechtfertigen in ihren Fantasien von Volk und Raum. Das Grundgesetz, das alle schützt, allen einzelnen Menschen Würde garantiert und Konflikte so reguliert, dass die Gemeinschaft nicht in Barbarei zurückfällt, ist unter dem Eindruck von Auschwitz geschrieben worden.
Das, was wir in der Konflikt- und Gewaltforschung seit fast 30 Jahren untersuchen, sind jene Bedingungen, die die Barbarei ermöglichen, wie jene Lücken, die Auschwitz verblassen, wie historisch verkehren lassen. Wir müssen am 80. Jahrestag der Befreiung einen weiteren Anstieg des Antisemitismus in all seinen traditionellen und modernen Facetten einer vermeintlichen Israelkritik feststellen. Wir stellen in unserer Mitte-Studie fest, dass die Grauzone jener Menschen, die „teils-teils“ antisemitischen Meinungen zustimmen, zunimmt. Zu beobachten ist ebenso, dass wieder die jüngeren Befragten Antisemitismus aufweisen und die Idee, dass die jüngeren Generationen mehr lernen können aus der Geschichte und den Wandel herbeiführen, sich als Trugschluss erweist. Die Erinnerung verblasst und der Antisemitismus kehrt noch stärker zurück. Wir stellen ebenso fest, wie eng und fest der Antisemitismus ein zentrales Element rechtsextremer Überzeugungen auch in der Mitte der Gesellschaft ist. Er ist untrennbar mit Ideologien eines Nationalchauvinismus, einem rassistischen Sozialdarwinismus, einer Verharmlosung oder sogar Verherrlichung des Nationalsozialismus, einer Ideologie minderwertiger „Volksfremder“ wie einer Bevorzugung einer starken Macht und Führung, wie sie Diktaturen kennen, verbunden. Das Völkische verbindet den Antisemitismus mit vielen anderen Facetten einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die sich gegen viele andere Gruppen richtet, auch solche, die in Auschwitz schon aus rassistischen Ideologien untergebracht, ausgebeutet, gequält und vernichtet wurden.
Die Barbarei besteht fort, auch in einem Rechtspopulismus, der versucht, Geschichte, Begriffe, Fakten systematisch zu verdrehen, um Auschwitz ausblenden zu können und historische Vergangenheiten eines Volkes, das Auschwitz ermöglichte, zu glorifizieren. Die Barbarei hat viele neue Gesichter, Gruppen und Anhänger, Netzwerke und ideologische Ausformungen. Auch jene, die die Barbarei der anderen dulden, ihr zusehen und sie mehr oder minder heimlich befürworten, gehören dazu. Und wenn von Barbarei die Rede ist, dann muss auch der 7. Oktober 2023 nun in die Geschichte der Barbarei eingereiht werden. Der barbarische Terrorangriff der Hamas – der schlimmsten Ermordungen und den meisten Tötungsversuchen an Jüdinnen und Juden nach der Schoah – ist auch die Realisierung dessen, was weltweit an barbarischem Hass und Vernichtungsfantasien existiert. Der Terrorangriff hat jüdische Menschen und jene, die ihnen nahe sind, an die Schoah erinnert, und er hat zugleich die Gewissheit weiteren Schmerzes vertieft, indem er wieder auf Verdrehungen, Umkehr der Täter und Opfer traf und Proteste erzeugte, die sich gegen Israel richteten und wieder und wieder nicht ohne antisemitische Ideen, Meinungen, Hass und Wut auskommen. Wir erforschen solchen Extremismus und Radikalisierungen, die zu ideologisch motivierten Tötungen führen. Wir beobachten Mechanismen und Dynamiken, die sich wiederholen, nicht nur bei jenen, die sich auf Auschwitz berufen. Es sind wenige Bilder, Symbole, Verherrlichungen von Auschwitz, die im Netz kursieren und die neuen Nazis und selbst ernannten Arier wie auch viele andere begeistern. Selbst als App tauchte Auschwitz auf. Wir erforschen die Ursachen, Phänomene und Folgen von destruktiven Konflikten und Gewalt und bringen sie in Bezug auf die Räume der Gewalt. Auschwitz war ein Ort der systematischen gruppenbezogenen Menschentötung, war ein ideologisch begründeter, ökonomisierter Ausschlachtungs-Extremismus und Vernichtungsrassismus auf der Grundlage einer dafür geschaffenen ‚Rassenwissenschaft‘. Auschwitz war die systematische Anlage von inszenierten und instrumentalisierten Konflikten und Gewalt. Der Lageralltag erzählt diese Geschichte. Auschwitz war und ist aber keine Erzählung, kein Narrativ, sondern eine Wirklichkeit. Auschwitz war eine durchgestaltete und realisierte Ausbeutung und Vernichtung.
Nirgendwo wurden so viele Menschen systematisch ermordet. Auschwitz ist heute eine Gedenkstätte, die an mehr als Auschwitz erinnert. Auschwitz war ein Ort und eine Idee der Herrschaft eines Volkes und einer selbst ernannten und konstruierten überlegenen Rasse. Adorno hat einen Appell, eine Hoffnung formuliert: „Man muss die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, dass sie solcher Taten fähig werden, muss ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, dass sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewusstsein jener Mechanismen erweckt.“ Viele Forschende der Konflikt- und Gewaltforschung teilen diese Hoffnung. Wir treffen auf Opfer von Gewalt, die Hoffnung schöpfen möchten, wenn sie uns nach unserem Wissen fragen. Wir werden gefragt, warum und wie Auschwitz möglich war. Im Gedenken schweigen wir heute. Davor und danach aber können wir die Fragen anerkennen, Antworten suchen und formulieren, bevor es andere tun, die Auschwitz verblassen lassen, endgültig ausradieren lassen möchten, auch um ihre Konzentrationspläne von Vertreibung und Vernichtung leichter verbreiten zu können.
Bielefeld, den 27.01.2025
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The long breath of extermination and barbarism
In memory of the liberation of the individuals who where held and murdered in the Auschwitz concentration camp
A memoir by Andreas Zick
Exactly 80 years ago, on January the 27th , 1945, the Auschwitz concentration camp was liberated by the 60th Army of the First Ukrainian Front. It was a Saturday afternoon. The soldiers encountered both survivors and the deceased in a place where language had no words. The photographs of the survivors from that day capture a state of being that is difficult to articulate, characterized by expressions filled with uncertainty. The testimonies of contemporary witnesses from Auschwitz, as well as other concentration camps and prisons, remain the most significant accounts for preserving memory today; this is further supported by our surveys on how people prefer to obtain information. The incomprehensible becomes more tangible when survivors share their stories.
In the field of conflict and violence research, there are no universally recognized days or cultures of remembrance as known to societies. It continuously analyzes these phenomena, striving to understand what is remembered, how the act ofremembering can be possible, how culture evolves over time. At times, research overlooks the extent to which it is not only historically dynamic but also shaped and influenced by history itself, particularly in relation to the memory of violence. January 27, 2025, presents an opportunity for collective remembrance.
Auschwitz serves as a haunting memory. We cannot determine whether it will remain an eternal memory. Auschwitz is a tangible location—a site that housed an extermination camp alongside a neighborhood where the perpetrators lived and maintained a façade of 'normal life.' They preserved their domestic idyll because they viewed themselves as superior and regarded extermination as normality. Today, Auschwitz stands as a place of remembrance. It serves as a warning and a testament to the systematic contempt for human dignity. Auschwitz reminds us of a violence that devastates and, more than almost any other event, repeatedly prompts the question: How much violence are people capable of inflicting? What ideologies, concepts of identity, social structures, and institutions, as well as what hatred, made Auschwitz possible, and which of these elements leave lasting traces, endure, or resurface in new forms?
Theodor W. Adorno stated in his 1966 radio essay "Education after Auschwitz "One speaks of the impending relapse into barbarism. But it is not a threat; Auschwitz was. Barbarism persists as long as the conditions that led to that relapse continue to exist. That is the whole horror. The social pressure continues to weigh down, despite the invisibility of today's misery. It drives people to the unspeakable, culminating in Auschwitz on a world-historical scale." Understanding Auschwitz is an inseparable task of democracy for those who invoke its fundamental rights, values, and norms. Thosewho see themselves as democrats are obliged to protect individuals and institutions from the barbarism of those who justify barbarism with ethnic and racist ideologies, as well as misanthropic beliefs, in 2 their distorted perceptions of people and space. The Basic Law, which safeguards everyone, guarantees dignity to all individuals and regulates conflicts in a manner that prevents the community from relapsing into barbarism; it was written under the profound influence of Auschwitz.
For nearly 30 years, our research into conflict and violence has focused on the conditions that enable barbarism, such as the societal gaps that allow atrocities like Auschwitz to fade into mere historical events. On the 80th anniversary of itsliberation, we must acknowledge a troubling resurgence of anti-Semitism, manifesting in both traditional and contemporary forms of alleged criticism of Israel. Our Mitte study reveals a growing segment of the population that"partly" endorses anti-Semitic views. Alarmingly, younger respondents are increasingly exhibiting anti-Semitic sentiments, challenging the notion that younger generations can learn from history and effect meaningful change. The collective memory is diminishing, and anti-Semitism is re-emerging with greater intensity. Furthermore, we are recognizing the deep-rooted connection between anti-Semitism and rightwing extremist ideologies, even within mainstream society. It is inextricably linked to nationalistic chauvinism, racist social Darwinism, the trivialization or glorification of National Socialism, and a belief in the inferiority of a preference for authoritarian leadership, such as dictatorships. Ethnocentrism intertwines anti-Semitism with various other forms of groupbased hatred, targeting numerous groups, including those who were housed, exploited, tortured, and exterminated in Auschwitz due to racist ideologies.
Barbarism persists, particularly in right-wing populism, which systematically distorts history, concepts, and facts to obscure the reality of Auschwitz while glorifying the historical past of a people that enabled its existence. Barbarism manifests in various new forms, including diverse groups, supporters, networks, and ideological movements. It also encompasses those who tolerate the barbarism of others, standing by and providing covert support. When discussingbarbarism, the events of October 7, 2023, must also be acknowledged as part of this history. The barbaric terrorist attack by Hamas—representing the worst murders and attempted killings of Jews since the Holocaust—embodies the global reality of barbaric hatred and extermination fantasies. This attack has reminded Jewish individuals and their allies of the Shoah, and at the awareness of impending suffering, as they once again confront distortions, reversals of perpetrator and victim roles, and protests against Israel that are inextricably linked to anti-Semitic ideas, sentiments, hatred, and anger.
We investigate extremism and radicalization that lead to ideologically motivated killings. We observe recurringmechanisms and dynamics, not only among those who reference Auschwitz. Various images, symbols, and glorifications of Auschwitz circulate on the internet, inspiring new Nazis, self-proclaimed Aryans, and many others. Auschwitz haseven been represented as an app. We explore the causes, phenomena, and consequences of destructive conflicts and violence, relating them to the spaces of violence. Auschwitz was a site of systematic, group-related killings, characterized by ideologically driven, economically motivated extermination extremism and extermination racism based on a 'racial science' created for this purpose. Auschwitz represented a systematic framework of staged and instrumentalized conflicts and violence. The 3 everyday life within the camp tells this harrowing story. However, Auschwitz is not merely a story or narrative; it is a stark reality. Auschwitz was a thoroughly organized and executed process of exploitation and extermination. Nowhere else were so many people systematically murdered.
Auschwitz today serves as a memorial that commemorates more than just the site itself. It represents both a place and an ideology rooted in the dominance of a self-proclaimed superior race. The philosopher Theodor Adorno articulated a profound appeal: "One must recognize the mechanisms that enable people to commit such atrocities, must point out these mechanisms to them, and strive to prevent their recurrence by fostering a general awareness of these mechanisms." Many researchers in the fields of conflict and violence studies share this aspiration. We encounter victims of violence who seekhope as they inquire about our understanding of these events. They ask us why and how Auschwitz was possible. In remembrance, we often find ourselves silent today. However, before and after this moment of reflection, we can acknowledge these questions, seek answers, and articulate them before others do—those who wish for Auschwitz to fade into obscurity, to be erased entirely, thereby facilitating their own agendas of expulsion and extermination.
Bielefeld, 27th of January 2025