Abt. Geschichtswissenschaft
Bielefelder Gründungsalthistoriker Jochen Martin verstorben
Am 3. Mai 2025 verstarb in Freiburg/Br. Jochen Martin im Alter von 88 Jahren.
Er wird hier gewürdigt, weil er im ersten Jahrzehnt seit Gründung der Universität Bielefeld wie der (damaligen) Fakultät für Geschichtswissenschaft selbstlos Verantwortung übernommen und Wesentliches geleistet hat: als Professor für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Alten Geschichte, als Dekan sowie als Prorektor.
Der gebürtige Oberschlesier Martin studierte in Freiburg und wurde dort, nach dem Staatsexamen für Geschichte und Latein, 1965 promoviert. Als wissenschaftlicher Assistent wirkte er an der Universität Konstanz ‒ ebenfalls eine intellektuell dynamische Neugründung dieser Zeit ‒, wo er sich 1972 habilitierte. 1976 folgte er dem Ruf nach Bielefeld, als erster Inhaber des althistorischen Lehrstuhls. Die antike Geschichte zu berücksichtigen war im Gründungskonzept der Fakultät zunächst nicht vorgesehen gewesen, doch die Institution war klug genug, diesen Fehler früh zu korrigieren (nicht nur mit Blick auf die Lehrerausbildung). Die Universität folgte mit der Berufung zugleich ihrer erklärten und erfolgreichen Politik, jüngere, interessante und konzeptionell wie theoretisch versierte Köpfe zu holen, die bereit waren, anzupacken und etwas Neues aufzubauen. Das hat Jochen Martin getan, über vier intensive Jahre, bevor er 1980 nach Freiburg i. Br. wechselte.
Knappere und längere Gesamtwürdigungen seines wissenschaftlichen Werks und Profils liegen vor: erstere von Uwe Walter in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (22. Dez. 2006 und 7. Mai 2025), letztere von Winfried Schmitz (auch er einst Professor für Alte Geschichte in Bielefeld: 1998‒2003) in der Einleitung zu Jochen Martin, „Bedingungen menschlichen Handelns in der Antike. Gesammelte Beiträge zur Historirschen Anthropologie“, Stuttgart 2009. Deshalb soll an dieser Stelle nur von seinem Wirken in Bielefeld die Rede sein. Der neue Professor hatte seinen Arbeitsbereich, in dem es bis dahin lediglich einen Akademischen Rat als ‚Vorbereiter‘ gab, zunächst einmal aufzubauen, das heißt es galt, ein Lehrangebot zu konzipieren und die eigenen Forschungsinteressen in die dynamisch wachsende Geschichtswissenschaft in Bielefeld einzubringen. Wie damals üblich wurde Martin frühzeitig zum Dekan gewählt. Dekane waren in der Aufbauphase nur mit einem minimalen Apparat ausgestattet, hatten aber viele Aufgaben und brachten lange Stunden in durchaus weichenstellenden Sitzungen zu. Für vieles waren erst einmal Formen und Routinen zu entwickeln. Es gab auch kaum die Möglichkeit, als Dekan Vertreter in die zahlreichen internen Kommissionen zu entsenden. Themen der Zeit war neben Stellenbesetzungen die Integration von PPP (Pädagogik, Philosophie, Psychologie) in die Universität ‒ die Philosophie kam schließlich zur Fakultät für Geschichtswissenschaft, und schon damals war die Frage nach der Finanzautonomie der beiden Fächer virulent. Und die Kontroverse um Klausuren im Geschichtsstudium. Und, und, und.
Das Dekanat gab Jochen Martin bereits nach dem Wintersemester 1977/78 ab, um in eine neue, größere Funktionsrolle einzutreten: Im Mai 1978 trat er, vom Senat gewählt, als Prorektor in die Leitung der Universität ein. Auch das damals neu eingerichtete, insgesamt dritte Prorektorat, zuständig für Lehre und studentische Angelegenheiten, musste vom Grunde her aufgebaut und mit Leben gefüllt werden. Hier setzte sich Martin unter anderem dafür ein, im Rahmen eines sog. Universitätsschwerpunkts (USP) die Einrichtung einer „Frauenforschung“ ‒ so hieß das tatsächlich mal! ‒ in Bielefeld institutionell zu verankern, was im Juni 1980 auch gelang: mit einer Sekretärin und 20.000 Mark an Sachmitteln. Wie intensiv sich Jochen Martin in der anspruchsvollen täglichen Aufbauarbeit engagierte, ist auch daran zu sehen, dass er während seiner Bielefelder Zeit wenig publizierte. Doch was er schrieb, hatte Gewicht und zeigt zugleich charakteristische Züge seines wissenschaftlichen Ethos’, nämlich Neugierde, Dialogbereitschaft und Pflichtbewusstsein in der Vermittlung historischer Zusammenhänge. Im Austausch mit Reinhart Koselleck setzte sich Martin mit dessen Konzept von Begriffsgeschichte auseinander. Zu einem von jenem herausgegebenen Band steuerte er eine prägnante Skizze zu einem kaum bekannten antiken Herrschaftsmodell bei („Dynasteia. Eine begriffs-, verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie“), und auch in den wenigen Seiten seines Beitrags zum Artikel „Monarchie“ in Kosellecks großem Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ beharrte er darauf, dass semantische Analysen stets politik- und sozialgeschichtlich geerdet zu sein hatten, um einen Verfassungsbegriff präzise zu profilieren. In dem noch skizzenhaften Beitrag „Two Ancient Histories. A Comparative Study of Greece and Rome (1979)“ entwarf er einen konzeptionell mutigen und theoretisch fundierten Vergleich zwischen den beiden für die Antike maßgeblichen sozialen und politischen Ordnungen, die in vielem ähnliche, aber auch grundverschiedene Züge trugen. In dieser Weise komparatistische Entwürfe waren damals in der Alten Geschichte noch selten. Viel benutzte, jedoch wenig gedankte Kärrnerarbeit leistete Jochen Martin schließlich, als er für die 1980 erschienene vollständige Neubearbeitung des „Großen Ploetz“, an der Dutzende Gelehrte beteiligt waren, nicht nur über 130 Seiten zu Hauptepochen der antiken Geschichte verfasste, sondern auch „am Zusammenstellen der redaktionellen Richtlinien mitwirkte und die Redaktion in vielen Detailfragen sachkundig unterstützte“, wie es im Vorwort heißt. Wie mühevoll und zeitraubend das in Zeiten von schreibmaschinengetippten Manuskripten auf Papier, Kommunikation per Briefpost und Redaktionssitzungen ohne Zoom gewesen sein muss, ist heutzutage kaum mehr zu ermessen. In seiner Zeit hier hat Jochen Martin Maßstäbe gesetzt. Die Universität Bielefeld und die Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie haben ihm viel zu verdanken.
Prof. Dr. Uwe Walter