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Wort des Tages - Lat
Lateinisch
Sapere aude!
„Wage es vernünftig zu sein!“
Wir kennen diesen Satz vor allem aus der Verwendung von Immanuel Kant, in der er zum Motto der Aufklärung geworden ist:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
(Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 481-494.)
Weniger bekannt ist, wo Kant den lateinischen Satz her hat. Der Satz findet sich bei dem römischen Dichter Horaz, ep. I 2,40f in einem viel einfacheren Zusammenhang, nämlich als lebenspraktische Regel:
Dimidium facti, qui coepit, habet. Sapere aude: incipe!
„Die Hälfte seines Werks hat der schon, der erst einmal angefangen hat. Wage es vernünftig zu sein: Fang an!“
Die Verwendung des Zitates durch Kant ist ein Beispiel für den bekannten Satz, dass ein Zitat nicht nur dem Zitierten, sondern auch dem Zitierenden gehört. Kant setzt das Horaz-Wort in einen anderen, seinen eigenen Kontext und stellt es in den Dienst seiner viel weiter und tiefer gehenden Aussageabsicht: Er überträgt das „Vernünftig sein“ von Entscheidungsnöten in alltäglichen Verrichtungen auf eine grundsätzliche Selbstbestimmung des Menschen im freien Denken und Urteilen. Gemeinsam ist beiden Autoren immerhin eines: Der Appell (aude!), auf Einsicht und Verstand zu setzen statt Trägheit und hemmender Bequemlichkeit nachzugeben. Dazu braucht es in der Tat, im Kleinen wie im Großen, Entschluss und Mut. Sapere aude!
Peter Prestel