Fachsprachenzentrum BLOG
Porträt Fabrice Jucquois
Interview mit Fabrice Jucquois
Nach einem Interview-Leitfaden von Miriam Goupille
Fabrice, woher kommst du genau?
Ich komme aus Belgien. Aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Brüssel. Das Dorf ist mittlerweile bekannt geworden, denn es gibt dort ein Schloss, in dem einige Filme gedreht wurden. Früher war das ein Dorf mit Kühen und Hühnern, und jetzt ist es eine schicke Location bei Brüssel geworden.
Mich hat das Dorf sehr geprägt, denn es gab diesen Kontakt mit der Natur. Nichts Theoretisches, sondern ein ganz unmittelbarer Kontakt. Man fühlt dort die Natur. Das ist eine andere Erfahrung, als man sie in einer Stadt machen kann.
Wir haben zwei grundsätzliche Arten uns zu bewegen. Horizontal und vertikal. Daraus besteht der Tanz. Horizontal, das schafft den Kontakt zur Erde. In der vertikalen Verfassung erleben wir etwas anderes. Ich würde sagen, dass das der Ausdruck einer Verbindung mit dem Theoretischen ist. Mich jedenfalls hat der Kontakt mit der Natur des Dorfes sehr geprägt.
Wie und wann kamst du nach Bielefeld?
Mit dem Auto. (Lachen) 2015. Ich bin mittlerweile 18 Mal umgezogen. Aufgrund meiner Tätigkeit als Künstler musste ich immer offen bleiben für die Linie, die die Kunst ins Leben zeichnete. Diese Linie hat mich nach Bielefeld gebracht. Als ich nach Bielefeld kam, öffnete sich ein neuer Weg für mich. Aber dazu später.
Gibt es etwas aus Belgien, was du hier vermisst? Und etwas, was du hier in Deutschland besonders schön findest?
Das sind zwei Fragen. Zu Nummer eins: Das erste, was ich vermisse, ist das Essen. Wer würde nicht gute Pralinen vermissen, nur um ein Beispiel zu nennen. Das zweite: Einfach in eine französischsprachige Bibliothek oder Buchhandlung zu gehen und ein bisschen zu lesen und zu träumen, in Büchern herumzustöbern, Zeit mit Literatur zu verbringen, die man entdecken möchte. Mein Ausweg: Die Bibliothek hinter mir ist voll mit Comics. (Wir sehen uns in Zoom). Das ist eine ganz spezifische Literaturform meines Heimatlandes. Immer wieder greife ich in meine Sammlung, und ich öffne die Bücher, als wären sie unbekannt.
Warum nicht in die Uni-Bibliothek oder zu Thalia? Das ist keine französischsprachige Bibliothek oder Buchhhandlung, was normal ist, und ich kann mir nicht vorstellen, mich auf Deutsch in Autoren wie Rabelais, Montaigne, Corneille, Voltaire, Balzac, Zola, Hugo oder Char oder aktuellen französischsprachigen Autoren wie Khadra oder Maalouf wiederzufinden. Sprache ist ein Lied, das uns in eine imaginäre Welt entführen kann. Wenn ich den Vers von Racine in „Andromaque“, „Pour qui sont ces serpents qui sifflent sur vos têtes“ auf Deutsch lese, ergäbe sich „Für wen sind diese Schlangen, die über deinen Köpfen zischen.“ Die Alliteration mit diesem beharrlichen „S“ auf Französisch ist weg. In meinem täglichen Leben bin ich froh, das Zischen von Schlangen nicht zu hören. In der Literatur höre oder lese ich es gern.
Was finde ich in Deutschland besonders schön? Als Ausländer befinde ich mich in einer Situation von Dankbarkeit. Ich weiß, dass ich meine künstlerische Tätigkeit in meinem Heimatland nicht ausüben könnte. Die Theaterkultur in Belgien ist eine andere. Die Kulturpolitik ist eine andere.
Neben meiner Kultur lerne ich andere Länder kennen. Entdecken ist oft wunderbar und schön.
Hast du immer unterrichtet? Wenn nicht, was hast du vorher gemacht?
Ich bin davon überzeugt, dass man für das Unterrichten besondere Kenntnisse braucht. Ich könnte nicht Tanz oder Französisch unterrichten, wenn ich nicht diese tiefen Kenntnisse hätte. Die wichtigen Persönlichkeiten der Geschichte sind zum Beispiel in der Antike ausgezogen mit einem gebildeten Menschen an ihrer Seite. Alexander der Große hatte etwa Aristoteles als Ausbilder. Das ist die Vorstellung, die ich im Kopf habe. Zuerst muss jemand Kenntnisse integrieren, erst danach ist er reif dafür, Lehrer zu sein. Wieder möchte ich mich auf meine dörflichen Wurzeln beziehen. Zuerst kommt die Erde, die horizontale Bewegung. Dann folgt die Vertikale in die Theorie, um zurück auf die Erde zu wirken.
Ich habe 25 Jahre lang als Tänzer und Choreograph an vielen Theatern insbesondere in Deutschland und Österreich gearbeitet. Und nur, weil ich diese Erfahrung besitze, denke ich, dass ich etwas weitergeben kann. Natürlich darf man nicht zu lang warten, denn irgendwann kann man sich nicht mehr so gut bewegen.
Auf das Französische hat mich ein ganz anderer Weg vorbereitet. Wir sind von der Kultur unseres eigenen Landes durchdrungen. In Belgien lernen wir in der Schule, dass die belgische Revolution in einem Theater begann, wir rezitieren die Verse von du Bellay, Ronsard oder Baudelaire auswendig. Wir wissen, dass Verlaines Gedichte von de Gaulle verwendet wurden. Jedes Jahr erhielten wir eine Leseliste mit 10 Büchern zum Lesen für Januar und 10 für Juli. Was den Französischunterricht angeht, habe ich zunächst fremdsprachige Sänger ausgebildet, die auf Französisch singen mussten.
Eine der Gemeinsamkeiten zwischen Tanz und Französisch ist die Suche nach Kreativität. Ich erlaube mir eine kleine Anekdote aus meinem Philosophiestudium an der Universität. Für den Kurs Anthropologie mussten wir ein Essay zu einem der folgenden Themen schreiben: Sprache, Körper, Begier. Ich schlug daher vor, über Tanz zu schreiben „die Begier nach Sprache durch den Körper.“ Das Wissen, das wir erwerben oder weitergeben, ist ein Puzzle, das wir bauen oder dekonstruieren, um es anschließend wieder zusammenzusetzen.
Kannst du uns eine Anekdote über deine
(ehemaligen) Studis erzählen? Es kann etwas Lustiges oder leicht
Peinliches sein, das jedem von uns passieren kann.
Eine Sprache ist nicht nur eine Sprache, sondern eine Kultur mit sehr vielen verschiedenen Facetten. Filme, Literatur, Bilder, Tanz, Musik, Architektur, Essen, Humor, Politik... Gern stelle ich Künstler vor, zum Beispiel Sänger.
Nun finde ich ein Stück eines Sängers von 1980, bin voller Enthusiasmus und singe vor der Klasse mit. Und noch geprägt von dieser Begeisterung frage ich erwartungsvoll einen Studenten: Und, was ist dein Gefühl? Magst du das?
Antwort: „Das ist ziemlich altmodisch.“ Und ich merke, wie mir die Begeisterung in den Keller (oder in die Kniekehlen?) rutscht.
Stell dir jetzt den Lehrer vor, der bis spät in die Nacht mit fiebrigem Eifer sucht, mit welchem Rap oder Slam er die Studierenden in der nächsten Unterrichtsstunde begeistern könnte!