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campocasoli.org - Interview mit G. Lorentini
Campocasoli.org – ein Bielefelder auf den Spuren seiner italienischen Geschichte
Interview mit Giuseppe Lorentini
Befragt und aus dem Italienischen übertragen von Susanne Hecht
Giuseppe, wer bist du und was machst du in Bielefeld?
Momentan bin ich Italienisch-Lehrer am Fachsprachenzentrum und habe gerade meinen binationalen italienisch-deutschen Master in Geschichte gemacht.
Seit wann lebst du in Bielefeld?
Am 21.01.2009 bin ich nach Bielefeld gezogen.
Wir führen dieses Interview durch, weil du während deiner Studien etwas entdeckt hast, das auch Bielefelder und Deutsche im Allgemeinen interessieren könnte.
Ich habe herausgefunden, dass sich in meinem Herkunftsdorf in Italien während des zweiten Weltkrieges ein KZ befand. KZ bedeutet dabei im Italienischen meistens Internierungslager.
Was ist daran so ungewöhnlich?
Die italienische Geschichtsschreibung hat sich um Konzentrationslager in Italien bis dato wenig gekümmert. Sie hat sich auf die italienische Widerstandsbewegung und die Ereignisse zwischen 1943 und 1945 konzentriert, also auf den Krieg in Italien mitsamt den zunächst in Sizilien, später auch auf dem Festland gelandeten alliierten Soldaten, die fortan gegen die Deutschen kämpften. Wenige Wochen nach der Landung der Alliierten in Sizilien wurde zudem Mussolini in einer Sitzung des Gran Consiglio del Fascismo gestürzt, nachdem ihm die dort anwesenden Mitglieder zunächst das Vertrauen entzogen und der Faschistenführer am nächsten Tag vom König abgesetzt und verhaftet wurde. Zugleich erstarkten ab dem Herbst 1943 die Partisanen, und die Widerstandsbewegung (Resistenza) avancierte zu einem immer wichtiger werdenden Faktor. Solche Themen wurden z.B. stark behandelt; andere Themen aus der Zeit des Faschismus sind in der Forschung dagegen nicht vertieft worden. Viele Erinnerungen sind deshalb verloren gegangen.
Ich stelle mir jetzt mal vor, ich käme aus dem idyllischen Schildesche. Geboren da, Schule besucht, erster Kuss hinter der Backsteinwand und all diese Sachen. Und auf einmal erfahre ich, dass im alten Schulgebäude am Kirchplatz mal ein Konzentrationslager war. Schreckliche Vorstellung. War das in etwa so?
Ja. So ungefähr. Ich bin 1983 in Casoli geboren worden, einem kleinen Dorf in den Abruzzen mit ca. 6000 Einwohnern. Da habe ich die ersten 24 Jahre meines Lebens verbracht. Bis vor 5 Jahren wusste ich allerdings nicht, dass sich in Casoli während des Kriegs ein Internierungslager befunden hatte. Und ebenso neu war das allen Menschen, die ich dort kenne – und das sind die allermeisten. Es handelte sich um ein Stück vergessener Geschichte. Über Dekaden hatte niemand mehr darüber gesprochen – und am Ende war sie aus der kollektiven Erinnerung gelöscht.
Wie bist du denn darauf gekommen?
Stell dir vor: Ich lese eine deutsche Fachzeitschrift für Historiker. (BGNS | Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Band 21 http://www.beitraege-ns.de/html/backlist.html)
Und da fällt mein Blick auf den Namen Casoli. Mein Dorf! Und wo finde ich es? In einer Liste der italienischen Internierungslager, zitiert aus einem italienischen Fachaufsatz.
Und woher hatte der Autor des italienischen Aufsatzes die Information?
Nun, das zentrale Staatsarchiv in Rom beherbergt alle Dokumente. Es ist ein eigenes Universum an Informationen. Und in der Wissenschaft ist es "wie im richtigen Leben“: Die Informationen, die dich interessieren könnten, stecken irgendwo in einem unendlichen Dschungel aus Daten und Dokumenten. Das Schwierige ist, diejenigen zu finden, die auf eine Spur führen, die dich interessieren könnte. Als ich also las: Campo di Concentramento di Casoli, blieb mir die Spucke weg, um es salopp auszudrücken.
Das kann ich mir vorstellen. Was hast du dann getan?
Ich habe mich sofort ans Telefon gehängt und einige Gespräche geführt. Das erste mit der Gemeinde Casoli. Da habe ich mich nach Dokumenten im Stadtarchiv erkundigt. Die vorhanden waren! Und ich habe auch erfahren, dass ein Lehrer des örtlichen Gymnasiums 2010 ein Projekt mit seinen Schülern zu dem Thema initiiert hatte, das leider versandete. Ich erfuhr auch, dass man 2010 ein Schild angebracht hatte, das an das Lager erinnert. Ich war zu der Zeit allerdings schon in Deutschland und hatte von der ersten öffentlichen Diskussion des Themas nichts mitbekommen. Parallel zu der jungen Bewegung in Casoli studierte ich meine historischen Fachtexte in Bielefeld und fand für mich voller Erstaunen ein Stück ganz überraschender Wahrheit heraus, die mein Leben fürs erste verändern sollte.
Jetzt bin ich gespannt.
Eine „passione civile“ begann. Meine Passion, zu verstehen, was ich entdeckt hatte. Meine Passion, die Geschichte der Gemeinschaft zu verstehen, in die ich hineingeboren worden bin. Das heißt, auch einen Teil meiner Geschichte zu verstehen. Mich selbst zu verstehen. Nun beginnt der aktive Teil der Geschichte. Was kann ich selbst als Historiker tun?
In den Semesterferien bin ich sofort nach Casoli gefahren, wo meine Familie lebt. Habe mit dem Bürgermeister gesprochen und einen Antrag auf die Nutzung der Dokumente im Stadtarchiv gestellt. Ich kannte bislang nur öffentliche Stadtarchive, nicht aber die Dokumente, die gerne in alte Gewölbekeller verfrachtet werden und das historische Stadtarchiv bilden.
Kannst du mir erklären, was ein historisches Stadtarchiv ist?
Ein historisches Stadtarchiv enthält nicht jedes Dokument, sondern nur solche, die eine historische oder amtliche Bedeutung haben oder haben könnten. Da stehen unzählige Eisenregale voller großer Stehsammler mit gebündelten Originaldokumenten seit der Gründung Italiens 1861. Sie sind mit einer Kordel oben zugebunden, so dass die Dokumente nicht herausfallen können. Ich habe ein Foto von einem gemacht, damit man sich diese Art von Archiv-Bergwerk, in dem man nach Diamanten sucht, besser vorstellen kann. Es ist ein unüberschaubarer Wust an Papier. Ohne eine Dokumentenliste ist der Edelstein quasi unauffindbar. Die Dokumente, die für mich interessant waren, waren übrigens bis 2000 im Katalog nicht aufgeführt. Sie fehlten einfach und waren damit praktisch inexistent.
Und wie hast du sie dann finden können?
Im Jahr 2000 gab es für die Gemeinden der Abruzzen Geld vom Staat, um Dokumente zu ordnen, zu bewerten und ordentlich zu verzeichnen. So eine kleine Gemeinde wie Casoli hat natürlich keine Fachleute für das Stadtarchiv. 2000 kam dann eine Gruppe von Experten, die diese Dokumente zugänglich gemacht hat. Einige Mappen sind während eines Hochwassers in den 90er Jahren verlorengegangen. Wir haben also nicht mehr alle Zeugnisse aus dieser Zeit.
Wie viel Material hast du denn da gefunden?
4 Stehsammler mit 215 Mappen, fascicoli, die über 4500 Blätter mit Angaben über die 218 Häftlinge des Lagers enthielten. Briefe von Angehörigen, Verlagerungen, medizinische Gutachten – kurz: das Leben dieser Leute. Einige Briefe zensiert, niemals vom Adressaten gelesen…
Was waren das für Menschen?
Zwei Gruppen. Erstens ausländische Juden, die während des Krieges in Italien gemeldet waren: Deutsche, Polen, Ungarn, Russen, Österreicher… die alle nach Italien gegangen waren, um sich zu retten, weil in Italien noch die Möglichkeit bestanden hatte, ein Ausreisevisum zu ergattern. Die waren zwischen 1940 und 1942 in Casoli interniert. Danach wurden sie in das Lager von Campagna verlegt, in die Provinz Salerno.
Von 1942 an haben wir eine zweite Gruppe in Casoli: politische Häftlinge aus Jugoslawien (heute Bosnien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien, Montenegro, Mazedonien). Sie waren als Saboteure, Kommunisten und militärische Spione klassifiziert. In Wirklichkeit waren das überwiegend Intellektuelle, die mit den deutschen und italienischen Besatzern nicht einverstanden waren. Die Dokumente bezeugen die Internierungsgründe: ein kritischer Satz, einfach dahingesagt, und sie holten dich. Ein Häftling hatte zum Beispiel, während er über die Straße ging, auf Kroatisch gesagt: „Evviva l’Inghilterra, abbasso l’Italia. Evviva la guerra, abbasso il tripartito.“ (Es lebe England, nieder mit Italien, es lebe der Krieg, nieder mit den drei Parteien (Deutschland, Italien, Japan).) Gehört und an die Polizei gegeben von einem gewissen XY.
Und was war 1943?
Eine wichtige historische Zäsur in Italien war am 8. September 1943, als im sizilianischen Ort Cassibile der Waffenstillstand zwischen den Alliierten und Italien unterzeichnet wurde. Durch dieses Abkommen löste sich Italien aus dem Bündnis mit dem Deutschen Reich. Der König floh nach Brindisi in Apulien. Die deutsche Wehrmacht war aber überall in Italien präsent, entmachtete die italienischen Streitkräfte und deportierte hunderttausende von italienischen Soldaten nach Deutschland zum Arbeitseinsatz und in Konzentrationslager. Etwa 640.000 Italiener, zweimal die Bielefelder Bevölkerung, endeten so u.a. als Zwangsarbeiter in Buchenwald, in Dachau und anderswo.
Und was ist nun aus deiner Wiederentdeckung entstanden?
Ich habe ein virtuelles Dokumentationszentrum aus den Originaldokumenten des historischen Stadtarchivs in Casoli gebaut. Drei Jahre habe ich gebraucht, um die Dokumente zu scannen, zu ordnen und sie in die Website www.campocasoli.org einzupflegen. Am 27. Januar 2017, dem Feiertag zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, habe ich die Website dann online gestellt. Seitdem gibt es einen Ansturm auf die Site, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Die Öffentlichkeit wurde aufmerksam. Nicht nur Privatleute, Angehörige der Internierten, sondern auch Politiker, Zeitungen und Fernsehsender. Die Site wurde bekannt. Verwandte der Internierten meldeten sich bei mir. Durch den Kontakt mit Angehörigen der Verstorbenen kommt mehr und mehr Material aus privaten Händen an die Oberfläche, das das Gedenken an die Inhaftierten auf meiner Site vervollständigt – und wieder neue Menschen berührt, die wiederum private Dokumente zur Verfügung stellen, die für andere interessant sind… Maler, Dichter, Künstler von Rang aus der slowenischen Geschichte. Mir ist zum Beispiel das Tagebuch eines inhaftierten Anwalts geschickt worden, das durch einen Mithäftling illustriert und 1974 posthum in Slowenien publiziert worden war (Mikuletič F., Internatitis, Goriška Mohorjeva družba, Gorica 1974). Irgendwie war es hinausgeschmuggelt worden aus der Haft, und endlich hatten die Angehörigen jemanden, dem sie es anvertrauen konnten. Darin finden sich vorzügliche Porträtzeichnungen der Häftlinge. Skizzen von Alltagssituationen im Lager. Es sind Informationen aus erster Hand, die dem Leser eine detailgenaue Vorstellung der Situation ermöglichen. Der eine oder andere konnte sich retten. Zum Beispiel ein Arzt, der nach seiner Flucht auf der Seite der Partisanen gegen Deutschland gekämpft und als Widerstandskämpfer den Tod gefunden hat. Das Universitätsklinikum von Ljubiljana trägt heute seinen Namen.
Sogar der Präsident Italiens, Sergio Mattarella, hat sich am 25. April 2018, dem italienischen Gedenktag der Befreiung von Nationalsozialismus und Faschismus, nach Casoli aufgemacht, und sich vor Ort von dir unterrichten lassen. (Foto von links nach rechts, Vordergrund: Sergio Mattarella, Giuseppe Lorentini, Vito Gironda (Uni Bielefeld)) Was für eine Ehre und welch eine Anerkennung für dich! Congratulazioni, Giuseppe!