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Berichte aus der Praxis #Teil 4
:: Außeruniversitäre Karrieren ::
Berichte aus der Praxis #Teil 4
„Berichte aus der Praxis“ werden von Promovierenden geschrieben, die in Kooperation mit einer außeruniversitären Organisation ein Praxisprojekt konzipiert und durchgeführt haben. Die BGHS fördert diese Vorhaben seit 2020 mit Stipendien. Im vierten Teil der Reihe berichtet Vera Linke über ihr Praxisprojekt mit einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit.
Versicherungsvereine als nachhaltige Organisationen: Totgesagte leben länger
Das Vereinssterben ist ein gebräuchlicher Topos in den öffentlichen Medien. Auch im Versicherungssektor gilt der Verein als eher randständige und mit strukturellen Problemen belastete Erscheinung. Doch sprechen Anzahl und Marktanteil der Versicherungsvereine schon seit längerem gegen die These eines reinen Nischengeschäfts, und es regt sich in der Öffentlichkeit die Vermutung, dass Totgesagte eben doch länger leben. Wie also positionieren sich Vereine in der gegenwärtigen Versicherungslandschaft? Von dieser grundlegenden Frage ausgehend entwickelte ich in Zusammenarbeit mit einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) die Projektidee eines historisch-soziologischen Beratungsangebots. Der VVaG selbst befand sich mitten in einem Entwicklungsprozess, der eng an eine Nachhaltigkeitszertifizierung gekoppelt war. Der traditionsreiche Verein – wie viele andere VVaG bereits weit vor dem 20. Jahrhundert gegründet – wollte sich für die Zukunft neu aufstellen.
Abbildung 1: Jahreshauptversammlung des Projektpartners, Anfang des 20. Jahrhunderts
Das Praxisprojekt beinhaltete zwei Teile. Erstens entwickelte ich für die Mitgliedervertreter-versammlung – das höchste Kontrollgremium eines VVaG – einen Vortrag, der die organisationale und ideelle Entwicklung von Vereinen im Kontext des breiteren Versicherungsfeldes historisch beleuchtete. Hier konnte ich direkt auf meine soziologische Dissertation zu Organisationswerdungsprozessen im britischen Versicherungswesen des 19. Jahrhunderts aufbauen. Dabei demonstrierte ich mittels historischer Funde, dass Versicherungsvereine auf verschiedene Arten immer wieder totgesagt wurden; und ich erläuterte aus welchen Gründen die Form doch länger Bestand hatte, als zu dem jeweiligen geschichtlichen Zeitpunkt erwartet wurde.
Zweitens erarbeitete ich eine Analyse der gegenwärtigen Positionierung des Vereins im Versicherungsfeld unter besonderer Berücksichtigung von dessen Nachhaltigkeitszielen. Dazu führte ich Sondierungsgespräche mit Mitarbeiter*innen des VVaG, nahm beobachtend an Meetings wie z.B. Aufsichtsratssitzungen teil und sprach mit Versicherungsvermittlern, die u.a. Produkte des Projektpartners verkaufen. Die Einblicke in die Gegenwart des VVaG mündeten in einen thesenartigen Bericht. Ich arbeitete heraus, wie der Verein bislang welche Nischen besetzt und warf die Frage auf, inwiefern sich das Nachhaltigkeitsthema eignete, um sich auf dem Markt weiter zu etablieren. Abschließend zeigte ich auf, wo der auf Schauseitenebene sehr aktiv geführte Nachhaltigkeitsdiskurs in der Organisation ankommt, in welche Strukturen und Prozesse er eingeschrieben ist und wo er bislang endet. Dieses Thema fand so großes Interesse, dass ich im Anschluss an das Praxisprojekt einen Auftrag für einen vertiefenden Workshop erhielt. Dieser brachte Abteilungsleiter*innen, Aufsichtsratsmitglieder, Mitgliedervertreter*innen und Vorstandsmitglieder zusammen und regte zur Diskussion an, wie das Thema Nachhaltigkeit bislang im Verein verankert ist und wie es weiterentwickelt werden soll.
Das Praxisprojekt war für mich eine gute Gelegenheit, auszutesten, inwiefern sich Erkenntnisse aus einer historisch-soziologischen Forschungsarbeit in die Beratungspraxis übertragen lassen. Die Erfahrung des Praxisprojekts zeigt: Historische Analysen und Narrative lassen sich sehr gut nutzen, um neue Rahmungen und Fragen zum organisationalen Alltag zu erzeugen. Gleichwohl war aber auch deutlich, dass Übersetzungsarbeit geleistet werden muss. Ein Mitgliedervertreter kam nach meinem Vortrag auf mich zu und sagte: „Als ich hörte, ‚historisch‘ hatte ich erst Angst. Aber das war sehr spannend. So hatte ich unseren Verein noch nie gesehen.“
Weitere Informationen über das Projekt Außeruniversitäre Karriere sind auf der BGHS Webseite zu finden: (Link).