Zentrum für interdisziplinäre Forschung
Täter:innen in der Literatur
In der Literaturgeschichte hat die Einfühlung in Täter:innen mit den Mitteln der Kunst eine lange Tradition. Die Beschäftigung mit ihnen wirft ebenso Fragen nach der menschlichen Natur und Moral wie nach den sozialen oder politischen Zusammenhängen auf, die ein Vergehen bedingen. Aber warum erzählen wir uns überhaupt Geschichten über Täter:innen, welche soziale und moralische Funktion erfüllen sie? Was ist die ‚Aufgabe‘ der Literatur in diesem Zusammenhang? Und wie weit reicht ihre Autonomie? Im Workshop "A Case for Empathy? Facing the Perpetrator in Literature, Culture, and History", der vom 16. bis zum 18 Oktober am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) stattfindet, wird diesen Fragen nachgegangen. Im Interview gibt die Workshop-Leiterin Dr. Saskia Fischer von der Universität Hannover einen kurzen Einblick in diese spannende Thematik.
Woher kommt die Faszination für Täter:innen?
Angesichts des Erfolgs etwa von True Crime Podcasts oder dem Überangebot an Krimiserien und Thrillern in Buch, Film und Fernsehen ließe sich vielleicht allgemein sagen, dass Täter:innen faszinieren, weil sie ein voyeuristisches Bedürfnis befriedigen. Gewalt, das Abgründige, das Böse sind seit jeher eine wirkmächtige Form der ‚Unterhaltung‘. Sie konfrontieren uns mit dem Unheimlichen und entfalten einen Grusel, den wir in Geschichten, Filmen und Erzählungen gut aushalten, ja genießen können, weil er uns nicht selbst unmittelbar betrifft. Wir können der Gewalt und Schuld so gewissermaßen ‚geschützt‘ entgegentreten, lassen sie kurz in unsere Welt hinein und dürfen uns sogleich in der vermeintlichen Sicherheit wiegen, dass diese Verbrechen und Verbrecher:innen nichts mit uns zu tun haben. Solche Darstellungen und Interpretationen von Täter:innen umgeben uns fortwährend, besonders in einer Medienlandschaft, die auf Sensations- und Schaulust ausgerichtet ist. Aber diese Formen der Beschäftigungen mit Täter:innen kratzen nur an der Oberfläche und sind letztlich ein Selbstbetrug. Sie sind gewissermaßen die modernen Märchen, die wir uns geschaffen haben, in denen wir Gefühle und Erfahrungen, die uns in der Realität auf lange Sicht zutiefst herausfordern und erschüttern würden, gesichert für kurze Zeit ausagieren können. Gesichert deshalb, da sie zu einer Rezeption führen, die uns davor bewahrt, dass wir an einen Punkt kommen, wie Herta Müller es genannt hat, an dem wir uns vor uns selbst fürchten müssen. Hält man sich das Erzählschema etwa konventioneller Krimis vor Augen, an dessen Ende immer das Aufspüren des Mörders oder der Mörderin und die ‚Auflösung‘ (im doppelten Wortsinn) des Falles steht, dann sind mit dem Ende der Erzählung von Verbrechen auch die Gefahren gebannt, die von ihnen ausgehen, die Ordnung wieder hergestellt – zumindest wird dies behaupten. Es sind wohl vor allem die simplen, einseitigen Narrationen und Deutungsversuche, sei es in der Kunst, den Medien oder generell in der Öffentlichkeit, die die Faszination für Täter:innen begründen. Sie tun nicht weh, verlangen uns nichts ab, sondern sind vielmehr – so formulierte es bereits Bertolt Brecht in seinem Kleinen Organon für das Theater – „barbarische Belustigungen“. Dabei dienen Täter:innen nicht selten – und hier bekommt ihre Inszenierung und Interpretation eine gewichtige Kultur deutende Dimension – als willkommene Figurationen für eine Gesellschaft, das Böse auf ‚den:die Andere:n‘ zu projizieren.
Wozu kann dagegen eine kritische Beschäftigung mit Täter:innen beitragen?
Eine genauere Beschäftigung mit Schuld, besonders mit kollektiven Gewaltverbrechen – wie etwa der Shoah – untergräbt die Vorstellung des Abgeltens, des Einhegens und Vergehens von Schuld. Ein differenzierter Blick auf Täter:innen wirft nicht nur die Frage nach der menschlichen Natur, sondern auch der Moral, den sozialen und kulturellen Kontexten sowie den Ressentiments auf, die eine Gesellschaft und Kultur durchdringen, die ein Vergehen bedingen und aus denen heraus es entsteht. Hannah Arendt hat daher im Zuge ihrer Beobachtung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses in den 1960er Jahren von der „vox populi“, also der Stimme der Nachkriegsgesellschaft, gesprochen, die im Verhalten und den Aussagen der Angeklagten zum Ausdruck kam. In ihren Ausflüchten, ihrer Schuldabwehr und ihrem perfiden Selbstbewusstsein, laut und ohne Reue die Forderung zu vertreten, einen ‚Schlussstrich‘ unter die Geschichte ziehen zu wollen, die Überlebenden zu verlachen und sich selbst als Opfer zu inszenieren, wurde für Arendt letztlich die Kontinuität von Mentalitäten, Haltungen und Überzeugungen seit dem Nationalsozialismus offenbar, die von der Gesellschaft weiterhin mitgetragen wurden und es den Täter:innen erst erlaubten, sich so offen und freimütig zu äußern. Ralph Giordano nennt dies die zweite Schuld der Nachkriegszeit gesprochen; eine Schuld, die sich über die Shoah hinaus fortsetzte, indem die Opfer nicht anerkannt, sondern zum Schweigen gebracht wurden, während die Täter:innen moralisch und juristisch nur selten zur Rechenschaft gezogen wurden. Den Blick auf die Täter:innen zu richten, muss folglich bedeuten, dies hat kürzlich auch die Publizistin Asal Dardan in ihrem vielschichtigen und klugen Essay Traumaland gefordert, den Blick auf die Gesellschaft, auf uns zu richten. Ich würde aus dieser Forderung ableiten, dass diese Erweiterung des Blicks nicht dazu dient, die Täter:innen aus ihrer Schuld zu entlassen, sondern auch uns selbst als moralische Subjekte in die Pflicht zu nehmen. So gesehen aber wird an der Art und Weise, wie wir mit Täter:innen umgehen, wie wir sie interpretieren und von ihnen erzählen ablesbar, wie es um die Werte, das Selbstverständnis und die Auseinandersetzung mit Schuld und Unrecht in einer Gesellschaft und Kultur bestellt ist. Narrationen, die Ambiguität verweigern, ermöglichen allererst die Faszination für Täter:innen, weil sie uns nicht herausfordern, sondern erlauben, dass wir uns am Abgründigen, das vermeintlich jenseits unserer eigenen Wirklichkeit liege, ergötzen können. Wir sollten unserer Faszination für Täter:innen immer auch misstrauen.
Was können wir lernen, wenn wir Täter:innen mit Empathie begegnen?
Empathie lässt diese Distanz zu den Täter:innen brüchig werden. Wir setzen uns damit einer Nähe zu Fragen der Schuld aus und sind selbst gefordert, Parallelen zu den Verantwortlichen und den Bedingungen, die die Schuld ermöglichen, zu sehen und mit diesem Wissen dann Abgrenzungen vorzunehmen. Eine differenzierte, verantwortungsvolle Form der Auseinandersetzung mit Schuld, die niemanden aus seiner Verantwortung entlässt und die Opfer in ihrem oft weit nach der Tat anhaltenden Leiden ernst nimmt, ist nur, so würde ich sagen, über einen empathischen Zugang möglich. Das klingt zunächst einmal paradox, geradezu zynisch, wenn nicht hochgradig moralisch verwerflich, weil ein empathischer Ansatz die Gefahr zu bergen scheint, ein Verbrechen verstehbar werden zu lassen oder zu entschuldigen, das moralisch und juristisch nicht gutzuheißen ist. Aber der Workshop trägt bewusst den Begriff Empathie und nicht Mitleid oder Mitgefühl im Titel. Empathie meint in diesem Zusammenhang eine Praxis des genauen Hinsehens und (Selbst-)Befragens, die das vorschnelle mitfühlende Urteil notwendig ergänzen muss, um der Parteinahme zu entgehen. Eine empathische Beschäftigung mit Täter:innen vollzieht sich nicht bloß in einem emotionalen Wirkungs-, sondern zudem in einem reflexiven (selbst-)kritischen Deutungsprozess. Empathie meint gerade nicht die Anerkennung oder das Verständnis für die Gefühle oder das Verhalten Anderer als angemessen oder gerechtfertigt. Es geht nicht um die Identifikation mit Täter:innen. Ich denke, wir alle kennen die Erfahrung, dass wir uns in die Perspektive eines:einer anderen hineindenken und dennoch zu einem eigenen Urteil oder Kritik an deren Verhalten kommen können. Es geht nicht um die Billigung von Schuld, sondern um eine Form der Erkenntnis, die uns abverlangt, uns tiefer hineinzudenken und dadurch eigene Vorurteile in der Beschäftigung mit den Täter:innen zu erkennen und die gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Prägungen zu begreifen. Ein Blick auf Täter:innen, der diese nicht dämonisiert, sondern dem empathischen Zugang aussetzt, trägt dazu bei, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Auf diese Weise kann die Beschäftigung mit Täter:innen als eine Aufforderung dienen, Schuld nicht in den Bereich gesamtgesellschaftlicher ‚Entlastung‘ zu verschieben und ausschließlich dem (meist historisch oder geografisch weit entfernt situierten) ‚Anderen‘ aufzubürden, sondern Fragen der Mitverantwortung, Komplizenschaft und kollektiver Schuldverstrickung konsequent zu stellen und die Mechanismen der Schuldabwehr transparent werden zu lassen. Dafür braucht es den interdisziplinären Austausch, die Erkenntnisse aus der Psychologie, Geschichtswissenschaft, der Soziologie, Konflikt- und Gewaltforschung, der Antisemitismus- und Vorurteilsforschung, der Philosophie, aber eben auch die Aufmerksamkeit für die Narrationen, die künstlerischen und erzählerischen Figurationen, die unsere Vorstellungen von Täter:innen bestimmen.
Im Kontext des Wokshops findet eine Lesung statt, zu der wir herzlich einladen. Alle Informationen finden Sie hier.