Zentrum für interdisziplinäre Forschung
Lebensende im Strafvollzug
Nicht nur das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung steigt, auch die Anzahl der Strafgefangenen in höherem Alter nimmt zu. Zwischen 2002 und 2020 stieg der Anteil der über 60-Jährigen Strafgefangenen von 2,6 auf 5,5 Prozent, der Anteil der über 50-Jährigen sogar von 10,1, auf 17,2 Prozent. Diese Entwicklung bringt es mit sich, dass mehr Menschen im Strafvollzug sterben und auch, dass mehr Menschen versuchen, sich selbst zu töten oder Hilfe zum Suizid zu erhalten. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Autonomie des Einzelnen bei Entscheidungen über die eigene Gesundheit und das Ende des eigenen Lebens gestärkt und die daraus erwachsenen Rechte gelten auch für Strafgefangene.
Die Folgen des demografischen Wandels und der Veränderungen in der Rechtsprechung für den Strafvollzug waren Thema der Tagung „Lebensende und Lebensbeendigung im Strafvollzug“, die am 15. und 16. Juni 2023 am ZiF stattfand. Einige Beiträge dieser Tagung sind jetzt als Schwerpunktthema in der Zeitschrift „Forum Strafvollzug“ erschienen.
Der Strafvollzug ist auf die bereits stattfindenden und noch anstehenden Veränderungen nicht nicht ausreichend vorbereitet; sei es, weil die Perspektive für Strafgefangene im Prinzip die Resozialisierung und Wiedererlangung der Freiheit ist, sei es, dass der Strafvollzug bislang das Augenmerk vor allem darauf richtete, Gefangene davon abzuhalten, sich selbst zu schädigen, so die beiden Leiter der Tagung, Prof. Dr. Michael Lindemann (Bielefeld) und Prof. Dr. Torsten Verrel (Bonn), in ihrem Beitrag.
(c) Universität Bielefeld, ZiF
Obwohl es immer häufiger vorkomme, werde das Sterben im Strafvollzug nach wie vor als „vollzugsfremder Ausnahmefall“ behandelt. Daher stelle sich nun mit besonderer Dringlichkeit die Frage, ob und wie ein menschenwürdiges Sterben innerhalb der aktuellen institutionellen Bedingungen überhaupt gewährleistet werden könne. Nicht immer könnten sehr alte oder kranke Gefangene entlassen werden. Doch auf die pflegerischen und palliativmedizinischen Herausforderungen sterbender Strafgefangener sei das Personal des Vollzugsdienstes kaum vorbereitet.
Ähnliches gelte für den Suizid im Strafvollzug. Zwar gebe es durchaus Projekte, die sich mit diesem Thema befassen, so die Forscher. Doch die eher zufällige Verbreitung und lose Bündelung der Aktivitäten zeige, dass es noch kein universelles Gesamtkonzept zur Suizidprävention gebe. Und auch der Umgang mit Wünschen nach assistiertem Suizid von Strafgefangenen sei alles andere als geklärt. Denn hier gelte es zwei Aufgaben in Einklang zu bringen: Suizide abzuwenden und das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu achten. Wie sich in den lebhaften Diskussionen der Tagungsteilnehmer*innen zeigte, sind in diesem Feld noch viele Fragen offen.
Antwortversuche zu ethischen Perspektiven, zu praktischen Fragen des Strafvollzugs, zur Einrichtung altersgemäßer Haftplätze, zur Zusammenarbeit mit Hospizdiensten und zu Suizidprävention in verschiedenen Haftanstalten werden in den Beiträgen der Zeitschrift ebenso präsentiert, wie Erfahrungen aus der Schweiz und den Niederlanden.