Zentrum für interdisziplinäre Forschung
Eigendynamiken in der Vormoderne: Jeder wollte den höchsten Turm
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Am 10. April hatte die neue Resident Group am ZiF zu einer Podiumsdiskussion geladen. Unter dem Titel „‚… hin zu den Prozessen‘ Eigendynamiken im vormodernen Ostasien und Europa“ diskutierten der Soziologe Wolfgang Knöbl (Hamburg), die Koreanistin Marion Eggert (Bochum) und der Historiker Franz-J. Arlinghaus (Bielefeld), wie sich Veränderungsprozesse in der Vormoderne als Prozesse eigenen Rechts verstehen lassen, statt, wie üblich, als Schritte auf dem Weg in die Moderne. Moderiert wurde das Gespräch von dem Berliner Germanisten Kai Bremer.
Prozesse sind eigendynamisch, wenn sie sich aus sich selbst heraus weiterentwickeln und dabei charakteristische Muster reproduzieren: So hatte es Wolfgang Knöbl in seinem Buch „Die Soziologie vor der Geschichte“ beschrieben. Klingt abstrakt, doch schaut man genauer hin, ist die Welt voll von solchen Dynamiken: Als sich die Baader-Meinhof-Gruppe als Rote-Armee-Fraktion in den Untergrund begab, traten ihre politischen Motive mehr und mehr in den Hintergrund, stattdessen sah sich die Gruppe nun gezwungen, sich als Untergrundorganisation neben anderen zu beweisen, so Knöbl. In der Folge reihte sich Anschlag an Anschlag, die Gewalt bekam eine Eigendynamik. Franz Arlinghaus präsentierte ein ganz anderes Beispiel: die sogenannten Geschlechtertürme, wie sie im Spätmittelalter in vielen italienischen Städten, etwa in Bologna oder Siena, errichtet wurden. Wenn man in der Stadtgesellschaft zur städtischen Aristokratie zählen wollte, musste man mitmachen und einen Turm bauen, gern auch höher als der Nachbar. Auch wenn ein solcher Turm als Wohnhaus alles andere als praktisch und oft auch nicht besonders stabil war. Natürlich konnte man sich diesem Wettlauf auch verweigern, doch das hatte hohe soziale Kosten. Man lief Gefahr, nicht mehr als Teil der aristokratischen Führungsschicht zu gelten. „Man kann den Akteuren nicht in den Kopf schauen, aber man kann die Dynamiken sehen, in denen sie handelten“, so Arlinghaus. Die Motivation, hohe Türme zu bauen, beruhte letztlich auf dem in der hierarchischen Struktur der Gesellschaft angelegten Bestreben nach Positionierung“.
Der Blick auf solche Eigendynamiken mache es möglich, Veränderungsprozesse auch in den scheinbar statischen Gesellschaften der Vormoderne zu finden. Denn auch wenn die ständische Ordnung unverändert blieb: die Einzelnen mussten ständig an der eigenen Position arbeiten. Die Veränderungen, die sich dabei ergaben, seien aber keine Schritte auf dem Weg zur Moderne gewesen, sondern eher eine weitere Ausfaltung vormoderner Strukturen. „Deshalb ist das Konzept der Eigendynamik ideal zur Analyse von Gesellschaften, die, wie in der Vormoderne, in hierarchischen sozialen Schichten organsiert sind“, so Knöbl.Eine Besonderheit der Forschungsgruppe besteht darin, nicht nur Europa zu betrachten, sondern auch die Veränderungsdynamiken in Ostasien. Das Konzept der Eigendynamik sei ein Angebot, die Geschichte vom Anfang her zu denken, nicht vom Ende, dadurch bekomme man auch in Bezug auf die koreanische Geschichte ganz andere Prozesse in den Blick, erklärte Marion Eggert. So könne es gelingen, auch Prozesse, die keine Modernisierungsprozesse sind, zu analysieren. Und man komme weg von einer Geschichtsschreibung, in der die Moderne als Ziel betrachtet wird, auf das alle historischen Prozesse zulaufen. Auch in den vormodernen Gesellschaften Ostasiens resultierten wesentliche Veränderungen demnach aus sich selbst tragenden Prozessen – wie in Europa.
Kai Bremer fragte auch nach den Vorteilen, den Fallstricken und Risiken der interdisziplinären Diskussion. Wer nicht immer nach der Entwicklung hin zur Moderne frage, könne besser sehen, was für die Menschen in ihrer Gegenwart relevant war, so Arlinghaus. Zu gewinnen seien Einsichten in erstaunliche Parallelen, aber auch Unterschiede in den Entwicklungsdynamiken verschiedener Weltgegenden. Der Preis sei eine enorme Arbeit an den Begriffen. Dafür hat die Gruppe nun am ZiF noch Zeit bis Ende September.
Die Aufzeichnung der Diskussion findet sich hier.
(c) Universität Bielefeld/P. Ottendörfer
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On 10 April, the new resident group at the ZiF hosted a panel discussion. Under the title ‘’... Towards the Processes‘ Self-Dynamics in Pre-Modern East Asia and Europe’, sociologist Wolfgang Knöbl (Hamburg), Koreanist Marion Eggert (Bochum) and historian Franz-J. Arlinghaus (Bielefeld) discussed how processes of change in the pre-modern era can be understood as processes in their own right rather than, as is usually the case, as steps on the path to modernity. The discussion was moderated by Berlin-based German scholar Kai Bremer.
Processes are self-dynamic if they continue to develop of their own accord and reproduce characteristic patterns in the process: This is how Wolfgang Knöbl described it in his book ‘Die Soziologie vor der Geschichte’. It sounds abstract, but if you take a closer look, the world is full of such dynamics: When the Baader-Meinhof group went underground as the Red Army faction, its political motives faded more and more into the background; instead, the group now felt compelled to prove itself as an underground organisation alongside others, according to Knöbl. As a result, one attack followed another and the violence took on a momentum of its own.
Franz Arlinghaus presented a completely different example: the so-called gender towers, as they were erected in many Italian cities in the late Middle Ages, for example in Bologna or Siena. If you wanted to be part of the urban aristocracy, you had to join in and build a tower, preferably higher than your neighbour. Even if such a tower was anything but practical as a home and often not particularly stable. Of course, it was possible to refuse to join the race, but this came at a high social cost. You ran the risk of no longer being considered part of the aristocratic ruling class. ‘You can't look into the heads of the players, but you can see the dynamics in which they acted,’ says Arlinghaus. 'The motivation to build high towers was ultimately based on the endeavour for positioning inherent in the hierarchical structure of society.'
Kai Bremer, Wolfgang Knöbl, Marion Eggert, Franz-J. Arlinghaus, (c) Universität Bielefeld/P. Ottendörfer
Looking at such internal dynamics makes it possible to find processes of change even in the seemingly static societies of pre-modern times. Even if the social order remained unchanged, individuals had to constantly work on their own position. However, the changes that resulted were not steps on the path to modernity, but rather a further development of pre-modern structures. ‘This is why the concept of momentum is ideal for analysing societies that are organised in hierarchical social strata, as in the pre-modern era,’ says Knöbl.
A special feature of the research group is that it not only looks at Europe, but also at the dynamics of change in East Asia. The concept of momentum is an offer to think about history from the beginning, not the end, which also allows us to look at completely different processes in relation to Korean history, explained Marion Eggert. In this way, it is possible to analyse processes that are not modernisation processes. And it becomes possible to overcome a historiography in which modernity is seen as the goal towards which all historical processes are heading. In the pre-modern societies of East Asia, too, significant changes resulted from self-sustaining processes - just like in Europe.
Kai Bremer also asked about the advantages, pitfalls and risks of the interdisciplinary discussion. Those who do not always ask about the development towards modernity can better see what was relevant for people in their present, said Arlinghaus. Insights can be gained into astonishing parallels, but also differences in the development dynamics of different parts of the world. The prize is an enormous amount of work on the concepts. The group now has time to do this at the ZiF until the end of September.
The recording of the discussion can be found here.