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Expeditionen in Extremregionen
Eisbären in der Arktis, Gorillas in Uganda oder Seelöwen auf den Galápagosinseln – auf seinen Expeditionen reist Professor Oliver Krüger immer wieder an entlegene Orte, um Tiere in freier Wildbahn zu beobachten. Der Bielefelder Verhaltensforscher will verstehen, wie sich Tierarten individuell an Umweltveränderungen und den Klimawandel anpassen. Immer mit dabei: eine Kamera, mit der er besondere Momente festhält.
Natur und Fotografie – Oliver Krüger hat seine Leidenschaften zum Beruf gemacht. „Und das Schöne ist: Ich kann Tiere überall beobachten und finde immer etwas Spannendes“, erklärt der Biologe. Egal ob vor der eigenen Haustür, im Teutoburger Wald oder anderswo. Na gut, es gibt ein paar Ecken auf der Welt, die lassen sein Biologenherz nochmal deutlich höherschlagen. Arktis und Antarktis zum Beispiel oder die weiten Savannen Ostafrikas. Letzte große Wildnisgebiete, die von menschlichen Einflüssen nahezu unberührt sind. Und weil Leidenschaft im Spiel ist, sucht und findet der Leiter der Bielefelder Verhaltensforschung immer wieder Wege, um solche Extremregionen zu bereisen, Tiere und Ökosysteme zu studieren und andere Menschen für die Schönheit und Schutzwürdigkeit der Natur zu begeistern. Kostprobe gefällig?
© Oliver Krüger
Oliver Krüger holt sein Tablet heran und klickt sich durch einen wahren Foto-Fundus. Tausende Aufnahmen sind bei seinen Reisen in den vergangenen drei Jahrzehnten entstanden, eindrucksvoll und manche davon einzigartig. „Hier jagt ein Orca einen Buckelwal in der Antarktis. Es ist der Hammer, wenn man dabei ist“, beschreibt Krüger seine Eindrücke. Pinguine, Eisbären, eine Pfuhlschnepfe im Flug oder ein Schwertschnabelkolibri – der 48-Jährige versucht, den Tieren so nah wie möglich zu kommen, hält immer wieder „magische Momente“ und Natureindrücke fest. So wie den Sonnenuntergang bei Stonington-Island in der Antarktis, den er vor sechs Jahren fotografiert hat. Ein gewaltiger Eisberg ragt aus dem dunklen Meer empor. „Da werden sie ganz still“, zeigt sich Krüger noch heute beeindruckt von dem intensiven Naturerlebnis.
Zwei Königspinguine inmitten von vielen Küken. Bei den Jungtieren sind die Federn zuerst braun, nach 10 bis 13 Monaten bekommen sie langsam ihre typische Farbe.
Anderen Menschen die Polregion näher bringen
Sein erstes Forschungspraktikum führte ihn nach dem Abitur 1994 nach Uganda. In Ostafrika arbeitete Krüger mit Gorillas und Schimpansen, fotografierte Löwen und Geparden, sammelte viele Erfahrungen. Weitere „Eyeopener“ waren für ihn die beiden Forschungsreisen mit der Polarstern 1998 und 2000 in der Antarktis. Jeweils drei Monate hat er als wissenschaftliche Hilfskraft auf dem deutschen Forschungsschiff gearbeitet, seitdem lässt ihn diese eisige Wildnis nicht mehr los. Fast jedes Jahr reist der Biologe einmal ans südliche Ende der Welt, nicht als Forscher, sondern als Experte, der anderen Menschen etwa auf Studienreisen die Polregion näherbringt – auch mit der Hoffnung, dass Menschen das, was sie kennen, eher bereit sind zu schützen. „Diese unglaubliche Schönheit, die Gewaltigkeit, mit der die Elemente auf einen einprasseln, und gleichzeitig kommt der Mensch praktisch nicht vor: das macht etwas mit einem. Wer das erlebt, kommt verändert zurück.“
Dass der in Werther aufgewachsene Wissenschaftler in der ganzen Welt und ebenso in seiner Heimat an der Universität Bielefeld forschen kann, empfindet er als „großes Glück“. Als eins seiner Markenzeichen gilt seine Arbeit mit Greifvögeln in Ostwestfalen. Vor gut zehn Jahren übergab ihm sein Vorgänger und Doktorvater Fritz Trillmich dazu noch eine Langzeitstudie auf den Galápagosinseln. „Es gibt wohl keinen Ort auf der Erde, wo man Evolution so gut sehen kann. Da passieren die tollsten Dinge“, schwärmt Krüger und klickt das nächste Foto an. Darauf zu sehen: Eine schwarze Meerechse mit einem blutroten Band im Maul. Krüger erklärt: „Diese Vegetarier haben gelernt, die Plazenta von Seelöwen zu verspeisen. Was für ein Entwicklungsschritt, denn eine Plazenta ist viel gehaltvoller als die normale Algenkost der Meerechsen.“
Meerechsen fressen normalerweise Algen, auf Galápagos haben sie ihren Speiseplan um die Plazenta von Seelöwen erweitert. Diese Meerechse verspeist gerade eine.
Reichlich Entschädigung für Entbehrungen
Studienobjekt auf Galápagos sind die Seelöwen. Das Bielefelder Uni-Team forscht auf der kleinen, unbewohnten Insel Caamano. Komfort? Fehlanzeige. Die Auflagen für die Arbeit im Nationalpark sind streng. Die Wissenschaftler*innen leben in einfachen Zelten, es gibt keine Toilette, keine Dusche, kaum frische Lebensmittel, der Speiseplan besteht hauptsächlich aus Dosennahrung, erzählt Krüger. So reduziert zu leben, weit weg vom Alltag mit E-Mails und Telefonaten, sei für ihn ebenfalls „pures Glück“, zumal es reichlich Entschädigung für die Entbehrungen gibt. So könne es passieren, morgens neben einem Seelöwen aufzuwachen, der sich an die Zeltplane schmiegt und schnarcht. „Die sind überhaupt nicht scheu. Wir können das Verhalten der Tiere studieren, ohne sie zu stören. Da sitzt man dann fünf Meter neben einem Seelöwen-Weibchen, das gerade ein Junges zur Welt bringt, und es ist dem Weibchen völlig egal, ob wir da sind oder nicht.“
Ganz nah dran: Das Baby eines Galápagos-Seelöwen, dem Studienobjekt des Bielefelder Forschungsteams auf Caamano, Galápagos.
Individualisierung als Überlebensstrategie
Genau hinschauen und beobachten, das ist für Krüger der erste Schritt, um Natur zu erforschen. Ihn interessiert, wie sich Lebewesen an Umweltveränderungen anpassen. Wie ist die Evolution des Verhaltens? Welche individuellen Unterschiede gibt es? Bei den Galápagos-Seelöwen konnte das Bielefelder Team jüngst zeigen, dass unterschiedliche Strategien bei der Nahrungssuche die Auswirkungen des Klimawandels auf die Population etwas abpuffern können. „Nur glauben wir leider nicht, dass es ausreichend sein wird“, zeigt sich der Experte besorgt. Immerhin haben einige Individuen durch ihr spezielles Fressverhalten Vorteile, wenn der Ozean immer wärmer wird, andere haben Nachteile. Wie wird das die Zusammensetzung der Population verändern? Kann Evolution schnell genug auf die Umweltveränderungen reagieren? Wie passen sich Tiere zusätzlich individuell an? Das beschäftigt Krüger, bei den Seelöwen auf Galápagos genauso wie beim Mäusebussard im Teutoburger Wald.
Im Fokus: Diesen Habicht wählte Oliver Krüger als Studienobjekt seiner Forschung in Deutschland.
Im Oktober wird er das nächste Mal zum Archipel im Pazifik aufbrechen, davor geht es in den Semesterferien in die Fjordwelt im Norden von Kanada, Richtung Eureka, die nördlichste zivile Wetterstation der Erde. Der Biologe freut sich auf die nordische Tierwelt: „Beim letzten Mal haben wir dort Polarfüchse gesehen, Moschusochsen, Eisbären und Schneehasen, die ihr weißes Fell gar nicht wechseln, weil die Sommer so kurz sind.“ Ist das nun Arbeit, Urlaub, Abenteuer? Für Oliver Krüger macht es keinen Unterschied. Für ihn sei jeder Tag Arbeit und Urlaub zugleich. Auch die Reisen in der Freizeit befruchten die Arbeit an der Universität, erweitern seinen Horizont, sagt er: „Meine Vorlesungen werden besser, weil ich über Dinge spreche, die ich erlebt habe.“ Wenn er etwa über den Klimawandel in der Antarktis referiert, sei das keine graue Theorie. „Ich war 25 Mal da und habe den Rückgang der Gletscher selbst fotografisch dokumentiert.“ Alle seine Vorlesungen bebildert er mit eigenen Fotos, auch ein Markenzeichen von ihm. Und so ist bei der nächsten Expedition wieder die Kamera mit dabei, um Tiere und besondere Momente festzuhalten.
Eisbär im Sprung: Diese Aufnahme gelang Oliver Krüger auf der Ellesmere-Insel in der kanadischen Arktis.
Zur Person
Professor Dr. Oliver Krüger hat in Bielefeld, Oxford und Cambridge studiert und gearbeitet, seit 2013 leitet er den Lehrstuhl für Verhaltensforschung an der Universität Bielefeld. Die Einrichtung feiert am 1. November ihr 50-jähriges Bestehen. Seit der Gründung 1973 hat sich der Lehrstuhl zu einem international führenden Zentrum der Verhaltensforschung entwickelt. Zum Team gehören rund 50 Wissenschaftler*innen.