Pressemitteilungen
Nachruf auf Rolf Rilinger (Nr. 148/2003)
Der Bielefelder Historiker Rolf Rilinger ist am 31. August im Alter von 61 Jahren gestorben. Rilinger war 1980 als Professor für Alte Geschichte an die Universität Bielefeld berufen worden. Obwohl ihn eine schwere Krankheit seit 1994 daran hinderte, aktiv zu forschen und zu lehren, hat er die Entwicklung der Wissenschaft und den Werdegang seiner ehemaligen Mitarbeiter und Kollegen weiterhin mit Interesse und Engagement begleitet.
Rolf Rilingers wissenschaftliche Arbeit war wesentlich von der Frage bestimmt, welche die Ursachen für den Erfolg des Imperium Romanum, für seinen Aufstieg und für seine Dauer, gewesen seien. Mit der Forschergeneration, der er angehörte, suchte er die Antwort in der Eigenart der Gesellschaft. Von Anfang an aber hütete er sich davor, deren Charakter dadurch zu bestimmen, dass er sie an modernen Vorstellungen von sozialen Systemen maß. Seine Ablehnung erklärt sich freilich nicht aus einer in den 70er und 80er Jahren noch verbreiteten Abneigung der traditionellen Altertumswissenschaft gegenüber Analysen mit Hilfe sozialwissen-schaftlicher Methoden. Im Gegenteil: Für Rolf Rilinger waren die meisten der damals neu formulierten sozialhistorischen Thesen gerade im Theoretischen nicht hinreichend solide begründet. Er hielt es für eine wissenschaftliche Pflicht, die Chancen für Kritik und Erkenntnis zu nutzen, die in theoretischen Diskussionen stecken. Mit dieser Haltung hat er zur allmählichen Erneuerung des Faches beigetragen.
Seine wichtigste wissenschaftliche Entdeckung ergab sich allerdings nicht aus versierten theoretischen Erörterungen. Hier schlugen sich vielmehr die Erfahrungen des begeisterten Sportlers nieder. Rilinger hielt es für ein menschliches Grundbedürfnis, sich zu unterscheiden. Daraus ergibt sich Ungleichheit; sie ist gewollt. Zu viel Ungleichheit aber löst den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Zusammenhang auf. Im Sport nun werden Regeln definiert, um Leistungen zu bestimmen. Der jeweilige Stand des Ringens um Vorrang wird in einer Tabelle festgehalten, in der keine zwei nebeneinander stehen, sondern alle hierarchisch gereiht sind. Menschliche Unterscheidungsbedürfnisse werden so kanalisiert, die Komplexität möglicher Verhaltensweisen wird reduziert. Rolf Rilinger konnte nachweisen, dass der für das Verständnis der römischen Gesellschaft wesentliche Begriff "ordo" nicht unspezifisch einfach Ordnung, sondern präzise eine linear-hierarchisch strukturierte Reihe meint, wie sie eine Tabelle darstellt. Es gelang ihm zu zeigen, daß in Rom gesellschaftliche Ungleichheit im wesentlichen dadurch bestimmt war, dass sie auf Erfolge im politischen Spiel zurückgeführt wurde. In dieser Form konnte sie akzeptiert werden. Dieselbe linear-hierarchische Struktur diagnostizierte Rilinger allenthalben in den Rechts- und Integrationskreisen der römischen Gesellschaft. Seine Krankheit hat ihn daran gehindert, umfassend zu erklären, unter welchen Bedingungen sie sich so weithin durchgesetzt hat, und auszuführen, wie sie sogar die Zukunft prägte. Eine seiner letzten Arbeiten macht deutlich, wie Kirchenlehrer selbst im griechisch geprägten Ostreich so sehr in den Kategorien des "ordo" dachten, dass sie sogar die Gemeinschaft der Heiligen in dieser Form beschrieben.
Rolf Rilinger konnte sich ausdauernd mit vielen Einzelheiten beschäftigen: Mit Akribie und Sorgfalt hat er für ein interessiertes Publikum auch außerhalb der Grenzen seines Faches facetten- und farbenreiche Lesebücher zum Leben im antiken Griechenland und im antiken Rom zusammengestellt. Aber als guter Historiker wusste er, dass zwar der Teufel im Detail steckt, die Sonne der Erkenntnis aber nur für den leuchtet, der den Kopf auch hebt. Lehren hieß für ihn nicht, Schulweisheiten weiterzugeben, sondern die Augen zu öffnen und den Blick zu schärfen. Viele, deren Horizont er erweitert hat, werden es ihm nicht vergessen.
Eindrucksvoll war auch seine Fähigkeit, Andersartigkeit nicht nur gelten zu lassen, sondern sie ausdrücklich zu fördern. Darin drückte sich eine menschliche, fachliche und politische Souveränität aus, die allen fehlen wird, die ihre Anliegen mit ihm besprechen konnten. Tassilo Schmidt