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"Ästhetisch-politischer Konservatismus und Traditionalismus um 1900" (Nr. 224/2005)
Unter Leitung der Bielefelder Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart, Kai Kauffmann und Jan Andres findet vom 1. bis 3. Dezember 2005 im Senatssaal der Universität Bielefeld (A3-126) eine interdisziplinäre Tagung zum Thema "Ästhetisch-politischer Konservatismus und Traditionalismus um 1900" statt. Es handelt sich um eine Veranstaltung im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte".
Politischer Konservatismus ist ein Begleitphänomen und selbst eine Erscheinungsform der neuzeitlichen Modernisierungsprozesse. Die politik- und geschichtswissenschaftliche Forschung dazu ist mittlerweile recht breit, wenngleich sich kein systematischer Konservatismus-Begriff herausgebildet hat. Als heuristisches Konzept ist die Rede vom politischen Konservatismus in der historischen Moderne jedoch fest eingeführt. Ganz anders ist die Lage auf dem Feld des Ästhetischen: Noch nie ist systematisch danach gefragt worden, ob sich parallel zu den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen auch ein ästhetischer Konservatismus entwickelt, dessen Struktur und Geschichte selbst einen inneren Zusammenhang bilden könnte.
Ästhetische Modernisierungsprozesse werden von den Veranstaltern der Tagung als Erscheinungsformen und Teil eines umfassenderen Modernebegriffs verstanden. Sie konstituieren sich ebenfalls mit und seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Einen dauerhafteren Impuls erhält die ästhetische Avantgarde in Europa freilich erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ausgehend besonders von den französischen Autoren. In Deutschland machen sich diese Einflüsse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr deutlich bemerkbar. Was ästhetische Moderne ist, wird seitdem üblicherweise von diesen ästhetischen Avantgarde-Bewegungen her definiert. Erst für diese Zeit ist der Begriff der 'klassischen' oder 'ästhetischen' Moderne als Epoche in der Forschung eingeführt. Es ist nicht zu übersehen, daß sich bereits vor, besonders aber um 1900 ebenfalls Tendenzen zu einem ästhetischen Konservatismus entwickeln, für den ein ganz anderes ästhetisches - und damit fast immer verbunden: politisches ? Programm gilt. In diesem ästhetischen Konservatismus kann man ein besonderes Form- und Gattungsbewußtsein feststellen. Rückgriffe auf etablierte ästhetische Traditionen wie die des Klassizismus, Legitimationsstrategien durch die Berufung auf kanonische ästhetische Vorbilder und die dezidierte Absage an formale Experimente um ihrer selbst willen scheinen für diese Strömung kennzeichnend zu sein.
Die Tagung will im interdisziplinären Gespräch von Kunst-, Literatur-, Musik-, Politik- und Geschichtswissenschaft das Feld des ästhetischen Konservatismus um und nach 1900 zu beschreiben versuchen. Dabei soll ausdrücklich nach den ästhetischen Strategien und Gestaltungsverfahren und ihrem Wechselspiel mit dem Politischen gefragt werden. Ästhetischer und politischer Konservatismus lassen sich zwar analytisch trennen. Die Hypothese, der diese Tagung nachgehen will, ist aber, dass ästhetischer Konservatismus immer auch eine politische Haltung, manchmal auch Handlung impliziert. Die Künstler wollen ihre Tätigkeit immer auch als einen Zeitkommentar verstanden wissen. Wer ästhetisch handelt, gibt auf eine spezifische Weise etwas zu verstehen; wer ästhetisch konservativ handelt, handelt immer auch politisch. So wie in diesem Kontext das Ästhetische politisch wird, bedient sich das Politische ästhetischer Formen und Ausdrucksmöglichkeiten, artikuliert sich an ihnen und kommuniziert durch sie. Am Phänomen des ästhetischen Konservatismus läßt sich besonders gut nachvollziehen, wie stark sich Ästhetisches und Politisches bedingen und durchdringen können, wie sehr die ästhetische Handlung politische Handlung sein kann.
Ästhetischer Konservativismus und Anti-Modernismus als Teil der Moderne
Wenn man so nach der Verbindung von Literatur, Kunst und Politik, von Ästhetischem und Politischem fragt, liegen die literaturgeschichtlich herausragenden Namen auf der Hand: Stefan George mit seinem Werk seit dem 'Siebenten Ring', sein großer Antipode Rudolf Borchardt, Thomas Mann, das spätere Werk Gerhard Hauptmanns, auch Hugo von Hofmannsthal. In der Philosophie beinhaltet Nietzsches Unterscheidung des Dionysischen vom Apollinischen auch die klassizistische Option. Ebenso finden sich in der Wissenschaft der Zeit wiederholt konservative Modelle und Vorstellungen, etwa bei Herman Grimm, aber auch beim späten Burckhardt. Für die Bildende Kunst ist die Beuroner Malerschule im formalen Rigorismus ihrer byzantinisierenden religiösen Malerei als wichtiger Beitrag zur ästhetischen Moderne schon am Ende des 19. Jahrhunderts anerkannt und inzwischen auch wiederentdeckt worden (s. insbes. die Studien Harald Siebenmorgens). Ludwig von Hofmanns Klassizismus wirkte bis in den Expressionismus hinein und beeinflußte auch die Literatur, besonders Hofmannsthal und Thomas Mann. Auch Picassos nach-kubistisches, neoklassizistisches Werk läßt sich als konservativ beschreiben, wenn man die stil- und motivgeschichtlichen Bezüge in ihrem Aussagewert ernst nimmt. In der Architektur spielen weit zurückreichende Traditionslinien eine wichtige Rolle. Man kann unter diesem Gesichtspunkt vielleicht sogar den Klassizitätsanspruch der modernen Architektur des frühen 20. Jahrhunderts und der Jugendstilarchitektur eines Henry van de Velde diskutieren. Vor allem die Großstadtarchitektur ist um 1900 deutlich durch klassizistische Tendenzen gekennzeichnet.
In der Musik lassen sich zumindest ähnliche Fragen stellen. Kann man den neoklassizistischen Stil Strawinskys auch als konservative Musik beschreiben? Die extrem formbewußte Kompositionslehre Schönbergs enthält in ihrem Ordnungs- und Gestaltungsbewußtsein und ihrem Formwillen auch konservative Elemente. Aus solchen Spannungen zwischen avantgardistischen und konservativen Elementen ließen sich Rückschlüsse ziehen. Allgemein läßt sich schon an diesen Beispielen die Frage aufwerfen, wie denn ästhetischer Konservatismus und Klassizismus sich zueinander verhalten. Als Arbeitsthese kann man eine Affinität klassizistischer und konservativer Stile und Schreibverfahren unterstellen - eine Annahme, die die Tagung zu untersuchen, zu differenzieren oder zu korrigieren hätte. Stefan Breuers wichtige soziologische Studie zu Stefan Georges 'ästhetischem Fundamentalismus' hat mit ihrem Titel schon einen deutlichen Hinweis in diese Richtung gegeben. Die Einsicht, daß ästhetischer Konservatismus und Anti-Modernismus - auch wie sich diese Begriffe zueinander verhalten, wird ein Thema der Tagung sein müssen ? als Teil der Moderne selbst verstanden werden müssen, ist nicht zuletzt ein Verdienst seiner Forschungen. Auch wenn das Kolloquium in der Zeit um 1900 einen Schwerpunkt setzen sollte, sind Rückblicke ins 19. Jahrhundert und Ausgriffe bis in die 30er, 40er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein sinnvoll.
Das Tagungsprogramm finden Sie unter:
http://:www.uni-bielefeld.de/geschichte/sfb584
Kontakt:
Prof. Dr. Wolfgang Braungart,
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, Tel.: 0521/106- 5264 oder -6983, E-Mail: wolfgang.braungart@uni-bielefeld.de
Prof. Dr. Kai Kauffmann,
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, Tel.: 0521/106-3712 oder -6986,
E-Mail: kai.kauffmann@uni-bielefeld.de