Fachsprachenzentrum BLOG
Porträt Agata Kotowska
Nach einem Interview-Leitfaden von Myriam Goupille
Woher kommst Du genau?
Ich komme aus Großpolen – Zentralpolen. Dort bin ich in einer kleinen Stadt geboren und aufgewachsen. Das Städtchen heißt Grabów nad Prosną und liegt 30 km von Kalisz, der ältesten Stadt Polens. Nach meinem Abitur bin ich nach Posen, der Hauptstadt von Großpolen, gezogen, wo ich fünf Jahre studiert habe.
Wie kamst Du nach Bielefeld?
Was mich nach Deutschland geführt hat? Ich bin 1990 wegen der Liebe nach Bielefeld gezogen. Mein Mann, der auch aus meiner Stadt kam, aber schon früher nach Deutschland gezogen ist, hat mich hierher geholt. Es war nicht von Anfang an mein Traum, in Deutschland zu leben, und ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Emigrantin sein würde. Ich wollte eigentlich in meiner Heimat leben, Lehrerin werden und Polnisch unterrichten. Deshalb habe ich auch polnische Philologie studiert.
Gibt es etwas aus Deinem Land, das Du hier vermisst und etwas, was Du hier schön findest?
Gerade jetzt habe ich in meinem Leben einen Punkt erreicht, wo ich sagen kann, dass ich die eine Hälfte meines Lebens in Polen und die andere Hälfte in Deutschland verbracht habe.
Am Anfang war das Leben hier für mich sehr schwer. Vieles war natürlich leichter und einfacher als in Polen. Viele Dinge fand ich in Deutschland damals schon schöner: Die besseren Straßen, Häuser, Geschäfte, alles bunt und all diese Dinge, die wir damals bei uns in Polen nicht hatten. Was mir hier von Anfang an sehr gefiel, war die Adventszeit, die Weihnachtsmärkte und die schön beleuchteten Orte im Dezember.
Im Gegensatz dazu vermisse ich die polnische Spontanität in Deutschland sehr. So kannst du in Polen zum Beispiel jemanden besuchen, ohne eingeladen zu sein oder auch anrufen, ohne eine Mittagspause beachten zu müssen, weil es keine gibt. Zudem vermisse ich die offene Mentalität der Menschen in Polen und das Gefühl, zu Hause zu sein. Was ich auch vermisse sind die zwei Monate Sommerferien in Polen, die dort alle Schulen haben, die wunderschöne polnische Landschaft und das Wetter im Sommer und im Winter. Am meisten vermisse ich aber natürlich meine ganze Familie, die in Polen lebt.
Ohne alles über einen Kamm scheren zu wollen: Ich fand die deutsche Einstellung „Ordnung muss sein“ anfangs ziemlich lustig, musste aber mit der Zeit dann auch selber zugeben, dass diese Mentalität in vielen Situationen doch einen gewissen Sinn hat. Ich habe festgestellt, dass viele Deutsche dadurch viel unkomplizierter leben, weniger Stress haben und vielleicht sogar gesünder sind.
Ich muss dazu ergänzen, dass sich, seit ich hier lebe, schon sehr viel verändert hat hinsichtlich der Beziehung zwischen Polen und Deutschland. Ich habe das Gefühl, dass sich die zwei Nachbarländer nähergekommen sind. Seit kurzem kann ich mir hier sogar meine Lieblingsbonbons „ Michałki“ von „Wawel“ und einen Himbeersaft von „Herbapol“, einer sehr bekannten polnischen Firma, kaufen. Für mich spielt es eine bedeutende Rolle, dass ich mir meine polnischen Lieblingsprodukte hier kaufen kann.
Hast Du immer unterrichtet? Wenn nicht, was hast Du vorher gemacht?
Ich habe schon als Kind gerne Lehrerin gespielt. Ich komme aus einer Lehrerfamilie, in der fast jeder als Lehrkraft arbeitet. Dass ich hier an der Uni unterrichte, war wohl von Gott so gewollt: Nachdem ich mit meinem ersten Sohn drei Jahre zu Hause verbracht hatte, fing ich sofort an zu suchen, wo ich als Polnisch-Lehrerin anfangen könnte.
Im Osten von Bielefeld gab es schon damals an der polnischen katholischen Mission eine Schule für polnische Sprache und Kultur für die Kinder der polnischen Emigranten. Dort bin ich mit meinem Kind gelandet und dort habe ich dann auch angefangen zu unterrichten. Eines Tages klopfte dort ein Doktor von der Universität Bielefeld an, der auf der Suche nach einer Polnisch-Lektorin war. Das war im Jahr 1995, und seitdem unterrichte ich an der Universität.
Ich habe auch an Privatschulen und an der Fachhochschule in Bielefeld Polnischkurse gegeben. Bis heute unterrichte ich noch die Jugendlichen an der polnischen Sonntagsschule in Stieghorst. Zusätzlich arbeite ich noch als pädagogische Mitarbeiterin.
Kannst Du uns eine Anekdote über Deine (ehemaligen) Studenten erzählen? Es kann etwas Lustiges oder leicht Peinliches sein, das jedem von uns passieren kann.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir gleich am Anfang passiert ist, als ich noch jung und unerfahren war. Ich habe, wie üblich in meinem Unterricht, von polnischen Traditionen erzählt und dann auch eine davon als gute Übung einführen wollen. Es ging um eine sehr wichtige polnische Weihnachtstradition, nämlich das Teilen der Oblaten.
Am Heiligen Abend, bevor sich die ganze Familie an den Tisch setzt, nimmt man die in der Kirche gesegneten Oblaten als Symbole der Liebe und teilt sie mit allen Anwesenden. Dazu spricht man Wünsche aus. Eine tolle Gelegenheit also, um die Aussprache zu üben.
Das ganze wollte ich mit großer Begeisterung sofort mit einer Anfängergruppe durchführen. Als ich der Gruppe das Ritual demonstrieren wollte, bin ich in die Richtung eines Studenten gegangen, der unglaublich schnell lernte und sprachlich sehr begabt zu sein schien. Sehr enttäuscht musste ich jedoch feststellen, dass er zur Durchführung unseres Rollenspiels nicht aufstand, sondern die ganze Zeit saß, während ich ihm meine Wünsche zugedachte. Natürlich hätte ich ihm sagen sollen, er solle bitte aufstehen, aber ich war so überrascht, weil er mir völlig problemlos und korrekt, aber doch sitzend, seine Wünsche übermittelt hatte, dass ich schwieg.
Erst danach sagte ich zu allen anderen: „Bitte jetzt aufstehen und die Oblaten teilen.“ An diese Geschichte denke ich jedes Jahr, wenn ich die Oblaten kurz vor Weihachten zur Uni bringe und sie mit den Studierenden teile. Jedes Land hat andere Sitten. Woher soll ein Deutscher wissen, dass für eine Polin das Teilen der Oblaten nicht nur eine Tradition, sondern auch eine sehr wichtige Zeremonie ist?
Aus dieser Geschichte habe ich
gelernt, wie wichtig es ist, sich bewusst auszudrücken und mitzuteilen.