[Erziehungswissenschaft] Aktuell
Nachruf auf Theodor Schulze (21.07.1926 – 10.07.2025)
Am 10. Juli 2025 ist Theodor Schulze im Alter von fast 99 Jahren gestorben. Schulze zählt zu den Nestoren der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung in Deutschland und hat mit seinem methodischen Ansatz der Toposanalyse das hermeneutische Erbe bis in die Zeit der empirischen Bildungsforschung hineingetragen. In der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft war er maßgeblich an der Gründung der Kommission Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung beteiligt, deren Initialzündung auf das Jahr 1978 zurückgeht, als Theodor Schulze unter dem Titel Wissenschaftliche Erschließung autobiographischer und literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnis zusammen mit Dieter Baacke eine Arbeitsgruppe auf dem DGfEKongress in Tübingen veranstaltete. Der daraus entstandene und ein Jahr später erschienene Sammelband Aus Geschichten lernen, 1993 nochmals neu in zweiter Auflage veröffentlicht, bündelte unterschiedliche Perspektiven auf die Möglichkeit, über Lebensgeschichten Einsichten in Lerngeschichten zu erhalten, und trug so maßgeblich dazu bei, neue Sichtweisen in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion zu verankern.
Geboren wurde Theodor Schulze am 21. Juli 1926 in Hannover. Er wuchs vor allem in Magdeburg auf, einer traditionsreichen Lehrerfamilie entstammend und eingebettet in ein reformorientiertes Milieu. Der Weg ins pädagogische Feld schien damit nahezu vorgezeichnet – und war für ihn, der von Freundinnen und Freunden einfach Theo genannt wurde, dennoch nicht selbstverständlich. Denn er verstand sich nie als geborener Erzieher, und mehr als Instruktionen interessierten ihn die inneren Bewegungen des Menschen – jene Übergänge, Brüche und Aufbrüche, an denen Lernen geschieht, nicht als planbares Resultat pädagogischer Einflussnahme, sondern als biographische Bewegung, die eher brüchig und oft unerwartet vonstatten geht. So entwarf er sich zeit seines Lebens demzufolge selbst als leidenschaftlicher Lerner, der den Zufall nicht einzuhegen versuchte, ihn vielmehr und viel deutlicher zuließ. Ohne Zufall wäre Schulze vermutlich dann auch nicht zur Pädagogik gekommen. Seine Leidenschaft war zu Jugendjahren das Schreiben von Theaterstücken, Dramaturg demnach ein Berufswunsch und ein Studium der Theater- oder Literaturwissenschaft das Naheliegende. Inspiriert und gefördert durch Herman Nohl, bei dem er seinerzeit vorzusprechen hatte, als er sich um einen Studienplatz bewarb, kam er dann aber dazu, 1946 ein Pädagogikstudium mit den Nebenfächern Germanistik und Philosophie in Göttingen aufzunehmen. Später kamen auch Geschichte, Soziologie und Anthropologie hinzu. Die Pädagogik war zu dieser Zeit in Göttingen ein kleines, aber bemerkenswert besetztes Fach. Zu Schulzes Kommilitoninnen und Kommilitonen gehörten Herwig Blankertz, Wolfgang Klafki, Klaus Mollenhauer, Ilse Dahmer und Hans-Dietrich Raapke. Neben Göttingen studierte Schulze auch in Heidelberg. 1955 wurde er bei Erich Weniger mit einer Arbeit über Die Dialektik in Schleiermachers Pädagogik promoviert – ein Werk, das zugleich den Grundstein für eine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Schleiermachers Denken bzw. überhaupt die Hermeneutik legte. Gemeinsam mit Weniger gab er zwei Jahre später den ersten Band der Pädagogischen Schriften Schleiermachers heraus. Im Jahr 1960 übernahm Schulze eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Flensburg; 1970 folgte er dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Didaktik der Sekundarstufe an die neu gegründete Universität Bielefeld. Dort entstanden nicht nur seine grundlegenden Beiträge zur Lerntheorie, sondern auch erste Arbeiten, die den Aufbruch einer biographisch orientierten Erziehungswissenschaft markierten. Sie waren dabei mit dem Ziel verbunden, dieser Perspektive auch eine institutionelle Verankerung innerhalb der Disziplin zu verschaffen. Nachdem die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung viele Jahre lang als AG ihre Arbeit innerhalb der DGfE gestaltete, bestand sie ab 1998 als Kommission. Ohne zu übertreiben, wird man deshalb sagen können, dass der heutige Erfolg der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung wesentlich auf Schulzes langjähriges Engagement in dieser Sache zurückgeht. Er verstand es, methodische Innovation mit theoretischer Fundierung zu verbinden und zugleich Netzwerke – u.a. auch in die Richtung der psychoanalytischen Pädagogik – aufzubauen, die dieser Forschungsrichtung Sichtbarkeit und Gewicht gaben. Von 1974 bis 1978 gehörte Schulze dem Vorstand der DGfE an.
Für Schulze war Lernen das Primäre der Pädagogik. Während bei anderen zu lesen oder hören war, dass Pädagogik es einzig und allein mit der Frage nach Sinn und Maß der Bildung zu tun habe, war für ihn Lernen das eigentliche Movens des pädagogischen Prozesses. Das schlug sich auch in seiner Lehre nieder. Seine Vorlesungen – etwa die Reihe Pioniere und Outsider der Pädagogik – eröffneten Studierenden nicht nur den Blick auf alternative pädagogische Entwürfe, sondern führten sie zugleich an die Lebensgeschichten ihrer Urheberinnen und Urheber heran. So wurde sichtbar, wie persönliche Erfahrungen und individuelle Lernwege zu pädagogischen Ideen wurden, und wie diese Ideen ihre Umsetzung fanden. Schulze vermittelte dabei kein pädagogisches Wissen in Form normativer Vorgaben. Stattdessen eröffnete er Möglichkeitsräume: Er sprach vom Eigensinn und von der Freiheit, den eigenen pädagogischen Standort zu befragen und den Handlungsspielraum – in Schule wie in außerschulischen Kontexten – bewusst zu erweitern. Auf diese Weise wurden historische Gestalten der Pädagogik für seine Studierenden zu realen Menschen, deren Denken und Handeln aus gelebtem Leben hervorgegangen war.
Auch nach seiner Emeritierung 1991 blieb Schulze wissenschaftlich ungemein aktiv.
Er hielt Vorträge und publizierte intensiv weiter. Zugleich fand er nun die Zeit,
Themen zu vertiefen, die zuvor im universitären Alltag nur in Ansätzen verfolgt
werden konnten. So konnte er seine Toposanalyse methodologisch und methodisch
weiter ausarbeiten und ihre Anwendung auf unterschiedlichen Feldern der
Biographieforschung präzisieren. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf den
Zusammenhängen zwischen Selbstbildern und autobiographischen Erzählungen –
wie Menschen sich in ihren eigenen Geschichten verorten und welche Orte, real oder
imaginär, dabei Bedeutung gewinnen.
Die Arbeiten zu Marc Chagall wurden in diesem Zusammenhang zu einem
exemplarischen Projekt; Schulze analysierte darin, wie Chagalls künstlerisches Werk
mit biographischen Erfahrungen und kollektiven Lernfeldern – etwa dem
künstlerischen Milieu in Paris – verwoben war. Auch die Idee der Lehrkunst, die
Didaktik, Intuition und künstlerische Gestaltung miteinander verbindet, begeisterte
Schulze und wurde zu einem wichtigen Teil seines Verständnisses von Pädagogik.
Schon früher hatte er Lehren immer auch als einen zutiefst kreativen Akt entworfen,
der vom genauen Beobachten, vom sensiblen Wahrnehmen und vom spielerischen
Neuordnen lebte. Das wurde nun intensiviert. Vielleicht war es dieser ästhetische
Blick, der ihn während seiner Tagungsbesuche auch dazu veranlasste, Porträts von
Personen anzufertigen, deren Vorträgen er beiwohnte. So entstanden kleine, präzise
Momentaufnahmen, die ebenso vom genauen Hinsehen wie vom Gespür für
Charakter lebten. Sein künstlerischer Blick zeigte sich zudem in seiner Vorliebe für
Fundstücke: Muscheln, Treibholz, angeschwemmte Flaschen. Schulze arrangierte
sie neu, kombinierte sie zu kleinen Kunstwerken und fotografierte sie. Wer von ihm
zum Beispiel einen Aufsatz per Briefpost zugesandt bekam, fand zumeist eine
persönlich ausgewählte Postkarte mit einem solchen Motiv beigelegt. Als Schulze im
Jahr 2006 für sein Lebenswerk den Ernst-Christian-Trapp-Preis der DGfE erhielt,
kam auch die Laudatorin Margret Kraul hierauf zu sprechen und würdigte diesen
künstlerischen Zugang zu Lebensgeschichten und Lebenswelten insgesamt.
Noch in seinen letzten Lebensjahren blieb Theodor Schulze eng mit der Erziehungswissenschaft verbunden. Für den Jubiläumsband der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung steuerte er ein umfangreiches Interview bei, in dem er Stationen der Biographieforschung zusammen mit seiner eigenen Lebensgeschichte reflektierte. Zuletzt war er bei der 50-Jahrfeier der Laborschule in Bielefeld zugegen. Sein unermüdliches Bestreben, auch im hohen Alter den Anschluss an aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen zu halten und für eine Forschungslogik einzutreten, die dem individuell Allgemeinen eine eigene Dignität zuerkennt, war eindrucksvoll und zugleich ein bewegendes Zeichen seines fortwährenden Engagements, das ihn auch dazu brachte, sich in disziplinär brisante Diskussionen einzubringen – u.a. auch in Verteidigung der Reformpädagogik.
Seine Frau Dorothee, mit der ihn eine über sechzigjährige Lebens- und Denkgemeinschaft verband, ist ihm bereits vor ein paar Jahren vorausgegangen, was für Theodor Schulze ein überaus schmerzhafter Verlust war. Nun hinterlässt er selbst Kinder, Enkel und Urenkelinnen, viele Weggefährtinnen und Weggefährten sowie eine Disziplin, die durch ihn gelernt hat, genauer auf die Lebens- und Lerngeschichten zu schauen, und sich den Einzelnen zuzuwenden. Mit ihm verliert die deutschsprachige Erziehungswissenschaft einen ihrer anregendsten und für biographisches Forschen nachhaltig wirkenden Denker – einen, der die Menschen nie aus dem Blick verlor und das Lernen, nicht das Belehren, ins Zentrum stellte. Er fehlt schon jetzt als ein kluger, ideenreicher Erzähler mit einem nahezu unerschöpflichen Wissen über Tagebücher, Memoiren, Briefe und andere biographische Zeugnisse, aus denen er Lebenswege und Werdegänge lebendig werden ließ. Seine Verdienste für die Biographieforschung wirken fort, und die DGfE wird ihm ein bleibendes Andenken bewahren.
Christine Demmer und Thorsten Fuchs