[Erziehungswissenschaft] Aktuell
Bestandsaufnahme der Rassismusforschung in Deutschland – Bericht und disziplinäre Analysen veröffentlicht
Das Wissensnetzwerk Rassismusforschung (WinRa) veröffentlicht eine Bestandsaufnahme zur Situation der Rassismusforschung in Deutschland (2015–2025). Der Bericht zeigt: Obwohl das Feld thematisch vielfältig ist, fehlt es massiv an struktureller Verankerung, Professuren und nachhaltiger Förderung.
WinRa hat eine systematische Analyse der Rassismusforschung an deutschen Hochschulen für den Zeitraum 2015 bis 2025 vorgelegt. Diese erfasst die strukturellen Rahmenbedingungen und thematischen Schwerpunkte in diesem zentralen Forschungsbereich, legt Leerstellen in der gegenwärtigen Forschungslandschaft offen und formuliert Empfehlungen für eine nachhaltige Stärkung des Forschungsfeldes.
- Der Bericht „Zwischen Prekarität und Institutionalisierung. Eine Bestandsaufnahme der Rassismusforschung in Deutschland (2015–2025)“ zum Download.
- Der Policy Brief „Für eine Institutionalisierung und nachhaltige Stärkung der Rassismusforschung in Deutschland“ zum Download.
Der Bericht wird durch sieben disziplinäre Analysen aus der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Sozialen Arbeit, Geografie, Wirtschaftswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft ergänzt. Alle disziplinären Analysen können hier abgerufen werden: https://www.winra.org/wissensarchiv/details/bestandsaufnahme. Die Analyse zur Erziehungswissenschaft wurde von Dr. Liesa Rühlmann und Prof. Dr. Paul Mecheril der AG 10 Migrationspädagogik und Rassismuskritik an der Fakultät für Erziehungswissenschaft aus dem WinRa-Regionalnetzwerk West verfasst.
Die zentralen Ergebnisse des Berichts verdeutlichen, dass die Rassismusforschung in Deutschland trotz inhaltlicher Breite erhebliche Defizite in der institutionellen Absicherung und langfristigen Wissenschaftsförderung aufweist. Das Feld ist derzeit nur schwach institutionalisiert, die Forschungsförderung bleibt prekär und ereignisgetrieben.
Mangelnde strukturelle Verankerung
Die Bestandsaufnahme identifiziert deutliche strukturelle Schwachstellen:
- Professuren: Bei über 52.000 Professuren in Deutschland führen derzeit lediglich drei eine explizite Denomination im Bereich Rassismusforschung.
- Studiengänge: Es existieren keine eigenständigen Studiengänge zur Rassismusforschung; sie wird zumeist als Randaspekt anderer Disziplinen behandelt.
- Förderung: Im Untersuchungszeitraum konnten lediglich 173 drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen identifiziert werden. Nach einem deutlichen Anstieg neu gestarteter Projekte in den Jahren 2022 (48) und 2023 (30) fiel die Zahl 2024 wieder auf das Niveau von 2019 (14 Projekte) zurück – ein Hinweis auf ereignisgetriebene Förderlogiken.
- Exzellenzförderung: Es fehlen Schwerpunktprogramme (SPP) und Sonderforschungsbereiche (SFB) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die sich explizit mit Rassismusforschung befassen.
Eklatante Forschungslücken
Der Bericht macht deutlich, dass trotz wichtiger wissenschaftlicher Beiträge nach wie vor erhebliche Forschungslücken bestehen: In zahlreichen Feldern liegen kaum empirische Studien oder systematische Analysen vor, sodass zentrale Dimensionen rassistischer Ungleichheitsverhältnisse bislang nur unzureichend erfasst sind. Zu diesen Feldern zählen u.a.:
- Wohnen: Fehlende systematische Analysen rassistisch diskriminierender Mechanismen auf dem Wohnungsmarkt.
- Arbeit/Arbeitsmarkt: Lücken zu rassistisch diskriminierenden Praktiken, Zugang, Segregation und Aufstiegschancen.
- Gesundheit: Unzureichende Erfassung struktureller rassistischer Diskriminierung sowie der Rassismuserfahrungen von Pflege- und medizinischem Personal.
- Polizei: Stark unterrepräsentiert, insbesondere hinsichtlich institutioneller Praxis und Traumafolgen.
- Sprache: Mangel an Forschung zu sprachbezogenen Aus- und Einschlüssen.
- Sport: Deutlich unterrepräsentiert.
- Klima und Umweltgerechtigkeit: Verbindung zu Rassismus kaum untersucht.
- Technikfolgen und KI/algorithmische Systeme: Nahezu vollständige Forschungslücke; trotz bekannter Bias-Risiken
Forderungen nach nachhaltiger Institutionalisierung
Um Rassismusforschung dauerhaft zu etablieren und strukturell zu stärken, formuliert WinRa folgende Handlungsempfehlungen:
- Konsolidierung der Förderarchitektur: Einrichtung einer mehrjährigen, eigenständigen Förderrichtlinie für Rassismusforschung (inkl. Infrastruktur- und Transfermodulen). Zudem braucht es DFG-Schwerpunktprogramme und Sonderforschungsbereiche, um wissenschaftliche Tiefe und Langfristigkeit zu sichern.
- Struktureller Ausbau an Hochschulen: Einrichtung von Professuren mit expliziter Denomination in zentralen Disziplinen (u. a. Rechts-, Medizin/Public-Health-, Erziehungswissenschaft und Soziologie) und eigenständigen Studiengängen zu Rassismus(kritik).
- Curriculare Verankerung: Verbindliche Integration der Rassismusforschung in die Curricula einschlägiger Disziplinen (insbesondere Lehrer*innenbildung, Medizin, Soziale Arbeit, Rechtswissenschaft, Soziologie).
- Nachwuchssicherung: Förderung von Nachwuchsgruppen mit klaren Tenure-Track-Modellen, um Personal verlässlich zu binden.
Über WinRa:
Das Wissensnetzwerk Rassismusforschung (WinRa) ist ein Verbundprojekt von neun Kooperationspartnern. Neben einer Gesamtkoordination und Leitung am DeZIM-Institut in Berlin besteht WinRa aus vier Regionalnetzwerken, die an der Bucerius Law School Hamburg/Universität Hamburg (Netzwerk Nord), der Hochschule Magdeburg-Stendal/Humboldt-Universität zu Berlin (Netzwerk Ost), der Universität Mannheim/Universität Bayreuth (Netzwerk Süd) sowie der Universität Bielefeld/Leuphana Universität Lüneburg (Netzwerk West) etabliert sind. WinRa stärkt und vernetzt die Rassismusforschung in Deutschland durch einen forschungsgeleiteten, interdisziplinären Austausch in Deutschland strategisch und formuliert Strategien für einen Ausbau der Forschungsinfrastruktur für die Rassismusforschung. WinRa wird bis Ende 2027 vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) gefördert.